Das Gute daran war, dass so ein kleiner Fisch wie ich nicht mehr im Fadenkreuz des FBI stand, auch wenn meine Akte immer noch in den digitalen Katakomben des Hoover-Gebäudes vor sich hin schmachtete.
Morris Torrance hatte beim FBI gekündigt, er hatte nicht warten wollen, bis man ihn mit einer neuen Aufgabe betraute. Morris war ein gläubiger Mensch. Er glaubte an die Göttlichkeit von Jesus Christus, die Redlichkeit von Sulamith Chopra und die Wahrhaftigkeit seiner Träume. Die Epoche der Chronolithen hatte solche Wandlungen möglich gemacht. Ich glaube, er war auch ein bisschen verliebt in Sue, wiewohl er sich (anders als Ray Mosely) nie irgendwelchen Illusionen über ihre Sexualität hingab. Er blieb ihr Leibwächter und Security-Chef, auch wenn sein Gehalt nur noch ein Bruchteil von dem gewesen sein dürfte, was ihm die Regierung gezahlt hatte.
Sue und Morris wollten mich nach wie vor am Projekt beteiligen — Sue, weil ich genau in ihr evolvierendes Muster signifikanter Zufälligkeit passte; und Morris, weil er glaubte, ich sei wichtig für Sue. Inwieweit sie noch legale Hebel in Bewegung setzen konnten, um mich bei der Stange zu halten, war schwer zu sagen. Morris war jetzt Zivilist. Trotzdem, wenn ruchbar wurde, dass ich fort wollte, würde er sich an meine Fersen heften. Vielleicht würde er sogar ein paar Fäden ziehen, nur um mich vor Ort zu halten. Morris mochte mich auf seine verhaltene Art, doch seine Loyalität galt in erster Linie Sue.
Sue war inzwischen damit beschäftigt, ihr zerschlagenes Chronolithen-Projekt als Internet-Zirkel Wiederaufleben zu lassen und alle Daten aufzugreifen, die das Verteidigungsministerium freigab, um sie in die Mathematik der Tau-Turbulenz zu füttern. Im Februar 2031 verlor sie die Mittel des Umweltministeriums und musste erneut um Unterstützung buhlen, derweil reichlich Geld in die Vorzeigeprojekte floss: in den Gammastrahlenlaser-Ringbeschleuniger in Stanford etwa und die Gruppe »Exotische Materie«, die außerhalb von Chicago arbeitete.
Ich verbrachte den Vormittag damit, den Code zu bereinigen, den ich für Sue geschrieben hatte, eine kleine Routine, die in die Welt hinausgehen sollte, um Medienknoten nach relevanten Synchronizitäten abzusuchen, und zwar mit einem Substantive sortierenden Algorithmus, den Sue selbst ausgeheckt hatte. Morris tauchte immer mal wieder im Büro auf; er wirkte schmäler als früher. Auch älter. Aber so vergnügt wie immer.
Sue war in ihrem eigenen Büro; ich unterbrach meine Arbeit und klopfte, um ihr zu sagen, dass ich jetzt ginge. In die Mittagspause natürlich, doch sie musste es mir angehört haben. »Richtig lange? Hast du's denn weit, Scotty?«
»Nicht weit.«
»Du weißt, wir sind noch nicht fertig.«
Sie hätte den Code meinen können, den wir ausgebrütet hatten, aber ich war mir nicht sicher.
Ihre Beinwunde war schon seit Jahren verheilt, doch das Jerusalem-Erlebnis hatte noch andere Narben hinterlassen. Jerusalem, gestand sie mir eines Tages, hatte ihr gezeigt, wie gefährlich ihre Arbeit war — dadurch, dass sie den Posten so nahe ans Zentrum der Tau-Turbulenz gelegt hatte, hatte sie nicht nur sich, sondern auch alle anderen in ihrer Umgebung gefährdet.
»Ich glaube, es ist unausweichlich«, sagte sie traurig, »das ist das Schlimmste daran. Du musst nur lange genug auf dem Gleis stehen, früher oder später kommt ein Zug.«
Ich erklärte ihr, das Debugging noch heute abzuschließen. Sie funkelte mich lange und skeptisch an. »Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?«
»Im Moment nicht.«
»Wir reden noch mal«, sagte sie.
Wie die meisten ihrer Prophezeiungen sollte sich auch diese bewahrheiten.
»Wo gehen Sie essen?«, fragte Morris. »Was dagegen, wenn ich mitkomme?« Ich lehnte ab: Ich hätte ein paar Dinge zu erledigen und käme unterwegs wahrscheinlich nur zu einem Sandwich. Wenn er Verdacht schöpfte, so ließ er sich nichts anmerken.
Ich löste mein Konto bei der Zurich-American auf, transferierte das meiste Geld auf eine Transit-Card und ließ mir den Rest in altmodischen Banknoten auszahlen. Ich fuhr ein bisschen länger herum, um sicherzugehen, dass Morris mir nicht folgte, so abwegig das auch war. Eher hatte er mein GPS angezapft. Also gab ich den Chrysler bei einem Vertragshändler in der Innenstadt in Zahlung, sagte der Verkäuferin, draußen stünde nichts, was mir zusagte und ob es ihr etwas ausmache, wenn ich mich unter den anderen Marken umsähe. Nein, meinte sie, und sie würde mich gerne im Hinterzimmer durch den virtuellen Bestand führen. Ich tippte auf einen stupsnasigen VW-Edison in Rauchblau, nach meinem Dafürhalten das nichtssagendste Auto, das je vom Band lief; ließ meinen Chrysler auf dem Parkplatz stehen und akzeptierte eine Probefahrt durch die halbe Stadt. Der reale VW sah etwas mitgenommener aus als der virtuelle, aber das Triebwerk war, soweit ich das beurteilen konnte, robust und einwandfrei.
Der ganze Spionageplunder hinterließ natürlich eine elektronische Spur so breit wie der Missouri. Morris Torrance konnte zweifellos eins und eins zusammenzählen und mich abfangen, aber er war nicht schnell genug, um mich noch in Baltimore zu erwischen. Bei Einbruch der Dunkelheit war ich zweihundert Meilen weiter westlich, fuhr mit offenen Fenstern in einen warmen Juniabend hinein und warf Antacidtabletten ein, um meinen Magen zu beruhigen.
Wo der Highway den Ohio überquerte, gab es ein großes Auffanglager, schätzungsweise tausend fadenscheinige Zelte, die in der Frühlingsbrise schlackerten, Dutzende von Fässern, aus denen unstete Flammen schlugen. Die meisten Menschen hier waren wohl Flüchtlinge aus dem Tiefland von Louisiana, Arbeitslose aus den Raffinerien und petrochemischen Werken, Farmer aus den Überschwemmungsgebieten. Der durstige Ton des Atchafalaya-Beckens hatte trotz massiver Anstrengungen der US-Pioniertruppe bereits begonnen, den Mississippi aus seinen versandeten Deltas zu ziehen. Mehr als eine Million Familien waren von den Überschwemmungen dieses Frühlings vertrieben worden, ganz zu schweigen von dem Chaos, das durch zerstörte Brücken und Schleusen und unter Schlamm erstickten Straßen verursacht wurde.
Menschen säumten die Pannenspur und bettelten um Mitfahrgelegenheit in beide Richtungen. Trampen war hier schon seit fünfzig Jahren verboten und Mitfahrgelegenheiten waren eine Seltenheit. Doch diese Menschen (fast nur Männer) machten sich darüber keine Gedanken mehr. Sie standen da, steif wie Vogelscheuchen, und blinzelten ins Scheinwerferlicht.
Hoffentlich hatte Kait einen sicheren Platz zum Schlafen gefunden.
Als ich die Außenbezirke von Minneapolis erreichte, stieg ich in einem Motel ab. Der Empfangschef, so alt wie eine Schildkröte nur werden konnte, machte große Augen, als ich Bares aus der Brieftasche nahm. »Damit muss ich ja zur Bank«, sagte er missmutig. Also legte ich fünfzig Dollar drauf, und er war so nett, meine Identität nicht abzugleichen. Das Zimmer, das er mir gab, war eine Kammer mit Bett und Gratis-Terminal und einem Fenster, das auf den Parkplatz ging.
Ich war todmüde, wollte aber erst noch mit Janice reden.
Whit meldete sich. »Scott«, sagte er herzlich, aber freudlos. Er schien selbst Schlaf zu brauchen. »Ich nehme an, es ist wegen Kaitlin. Leider wissen wir immer noch nicht mehr. Die Polizei scheint davon auszugehen, dass sie immer noch in der Stadt ist, also sind wir vorsichtig optimistisch. Mehr können wir im Moment auch nicht tun.«
»Danke, Whit, aber ich möchte jetzt mit Janice sprechen.«
»Es ist spät. Sie braucht Ruhe, Scott.«
»Ich werde es kurzmachen.«
»Also gut«, sagte Whit und entfernte sich vom Terminal. Augenblicke später zeigte sich Janice, sie war im Nachthemd, aber offensichtlich hellwach.
»Scotty«, sagte sie. »Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber du warst nicht zu Hause.«
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