»Nicht, wenn ich sie dahin bekomme, wo ich hinwill.«
»Lexington V. A.? Samaritan?«
»Ein bisschen weiter noch. Sie braucht spezielle Behandlung.«
Er blickte zum Auto. Simon hatte die Fenster heruntergelassen, damit frische Luft hineinwehte. Regen klatschte auf das staubige Fahrzeug und den öligen, von Pfützen übersäten Asphalt. Diane drehte sich im Schlaf um, begann zu husten. Bernelli runzelte die Stirn. »Dann mach ich mal die Pumpen an. Sie wollen sicher gleich weiter.«
Bevor wir wieder losfuhren, stellte er noch einige Lebensmittel für uns zusammen: ein paar Suppendosen, eine Schachtel Cracker, einen Dosenöffner. Aber er kam nicht in die Nähe des Autos.
Quälender, periodisch auftretender Husten ist ein typisches Symptom für KVES. Es mutet schon beinahe hinterhältig an, wie der Erreger seine Opfer vorerst schont, es vorzieht, sie erst einmal nicht in einer verheerenden Pneumonie zu ertränken, obwohl das dann letzten Endes doch das Mittel ist, mit dem er sie umbringt — sofern nicht schon vorher komplettes Herzversagen eintritt. Bei dem Großhändler in der Nähe von Flagstaff hatte ich mir einen Sauerstoffbehälter und eine Maske verschafft, und als der Husten Dianes Atmung zu beeinträchtigen begann — sie war am Rande der Panik, verdrehte die Augen, weil sie das Gefühl hatte, in ihrem eigenen Sputum zu ertrinken —, machte ich die Atemwege, so gut es ging, frei und hielt ihr die Sauerstoffmaske über Mund und Gesicht, während Simon fuhr.
Irgendwann wurde sie ruhiger, ihre Gesichtsfarbe normalisierte sich, und sie konnte wieder schlafen. Ich saß bei ihr, ihr fiebriger Kopf schmiegte sich an meine Schulter. Der Regen fiel unerbittlich und zwang uns, langsamer zu fahren. Jedes Mal wenn wir durch eine Senke fuhren, zog der Wagen eine schäumende Wasserwolke hinter sich her. Zum Abend hin schwand das Licht, hinterließ glimmende Kohlen am westlichen Horizont.
Es gab keinerlei Geräusche neben dem Trommeln des Regens auf dem Autodach, und ich war recht zufrieden damit, dem zuzuhören, als sich Simon plötzlich räusperte und fragte: »Bist du Atheist, Tyler?«
»Wie bitte?«
»Ich will nicht unhöflich sein, aber ich habe mich gefragt, ob du dich als Atheisten bezeichnen würdest?«
Ich wusste nicht recht, wie ich darauf antworten sollte. Simon hatte einen hilfreichen, ja unverzichtbaren Beitrag dazu geleistet, dass wir bis hierher gekommen waren. Doch er war auch jemand, der sein geistiges Kapital in einen Haufen unzurechnungsfähiger Dispensationalisten investiert hatte, deren einziger Einwand gegen das Ende der Welt darin bestand, dass es ihren detaillierten Erwartungen nicht entsprach. Ich wollte ihn nicht beleidigen, ich brauchte ihn noch — Diane brauchte ihn noch. Also sagte ich: »Spielt es denn eine Rolle, als was ich mich bezeichnen würde?«
»Ich war einfach nur neugierig.«
»Tja… Ich weiß es nicht. Schätze, das wäre meine Antwort. Ich erhebe nicht den Anspruch zu wissen, ob Gott existiert oder warum er das Universum auf diese Weise ins Schleudern gebracht hat. Tut mir Leid, Simon, das ist alles, was ich an der theologischen Front zu bieten habe.«
Einige Kilometer lang schwieg er. Dann sagte er: »Vielleicht ist es das, was Diane meinte.«
»Was sie wozu meinte?«
»Wenn wir darüber sprachen. Was wir übrigens länger nicht mehr getan haben, wenn ich’s mir recht überlege. Wir waren unterschiedlicher Ansicht über Pastor Dan und Jordan Tabernacle, auch vor dem Schisma schon. Ich fand, dass sie zu zynisch war. Sie sagte, ich sei zu leicht zu beeindrucken. Nun, kann schon sein. Pastor Dan besaß die Gabe, die Schrift aufzuschlagen und auf jeder Seite Erkenntnisse zu finden — solide wie ein Haus, Säulen und Grundpfeiler der Erkenntnis. Das ist wirklich eine Gabe, weißt du. Ich selber kann es nicht. So sehr ich es versuche, ich bin bis heute nicht in der Lage, die Bibel aufzuschlagen und sofort zu begreifen, was da steht.«
»Vielleicht ist es auch gar nicht so gedacht.«
»Ich wollte es aber. Ich wollte so sein wie Pastor Dan — klug und immer, na ja, mit festem Boden unter den Füßen. Diane sagte, es sei ein Teufelspakt, Dan Condon hätte Demut gegen Gewissheit getauscht. Vielleicht ist es das, was mir abging. Und vielleicht ist es das, was sie in dir sah, warum sie all die Jahre an dir festgehalten hat: deine Demut.«
»Simon, ich…«
»Schon gut. Das ist nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, und du brauchst es auch nicht um meinetwillen zu beschönigen. Ich weiß, dass sie dich angerufen hat, wenn sie dachte, ich schlafe, oder wenn ich außer Haus war. Ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen darf, sie so lange bei mir gehabt zu haben.« Er drehte sich zu mir um. »Würdest du mir einen Gefallen tun? Sag ihr bitte, es täte mir Leid, dass ich mich nicht besser um sie gekümmert habe, als sie krank wurde.«
»Das kannst du ihr doch selber sagen.«
Er nickte nachdenklich und fuhr tiefer in den Regen hinein. Ich sagte ihm, er solle versuchen, nützliche Informationen im Radio zu finden, jetzt, wo es wieder dunkel war. Meine Absicht war, wach zu bleiben und zuzuhören, aber ich hatte rasende Kopfschmerzen und begann alles doppelt zu sehen, und nach einer Weile schien es dann doch angenehmer, einfach die Augen zu schließen und zu schlafen.
Ich schlief fest und lange, jede Menge Kilometer blieben unter den Rädern des Autos zurück. Als ich aufwachte, war es erneut ein regnerischer Morgen. Wir parkten auf einem Rastplatz — westlich von Manassas, wie ich später erfuhr —, und eine Frau mit einem eingerissenen schwarzen Regenschirm klopfte ans Fenster.
Blinzelnd öffnete ich die Tür, worauf sie, mit achtsamen Blicken auf Diane, einen Schritt zurückwich. »Soll Ihnen von dem Mann sagen, Sie solln nich warten.«
»Wie bitte?«
»Soll Sie von ihm grüßen und Sie solln nich auf ihn warten.«
Simon saß nicht auf dem Vordersitz. Auch zwischen den Mülltonnen, den nassen Picknicktischen und den Plastiktoiletten war er nicht zu sehen. Einige andere Wagen standen herum, die meisten im Leerlauf vor sich hintuckernd, während ihre Fahrer auf dem Klo waren. Ich registrierte Bäume, Parklandschaft, einen hügeligen Ausblick auf eine regennasse kleine Industriestadt unter einem feuerroten Himmel. »Dünner blonder Typ? Schmutziges T-Shirt?«
»Genau der. Meinte, Sie solln nicht zu lange schlafen. Dann isser losgezogen.«
»Zu Fuß?«
»Ja. Runter Richtung Fluss, nicht anner Straße lang.« Die Frau schielte wieder zu Diane hinüber. »Geht’s Ihnen beiden gut?«
»Nein. Aber wir haben’s nicht mehr weit. Nett, dass Sie fragen. Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Ja. Soll ausrichten, Gott segne Sie und er findet von hier aus selber weiter.«
Ich versorgte Diane. Warf einen letzten Blick über den nassen Parkplatz. Dann fuhr ich weiter.
Ich musste mehrmals anhalten, um Dianes Tropf zu richten oder ihr Sauerstoff zu verabreichen. Sie öffnete die Augen überhaupt nicht mehr, und sie schlief nicht einfach nur — sie war ohne Bewusstsein. Ich mochte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete.
Die Straßen erlaubten kein schnelles Fahren, der Regen prasselte nur so herunter und überall gab es Hinweise auf das Chaos der letzten Tage. Ich kam an dutzenden von ausgebrannten, an den Straßenrand geschobenen Autowracks vorbei, aus einigen stieg noch Rauch auf. Etliche Straßen waren für den zivilen Verkehr gesperrt, durften nur von Militär oder Notdienstfahrzeugen befahren werden. Mehrmals stand ich vor Straßensperren und musste kehrtmachen. Die Hitze des Tages machte die feuchte Luft fast unerträglich, am Nachmittag kam zwar ein starker Wind auf, doch auch der brachte nur wenig Erleichterung.
Zumindest war Simon erst kurz vor unserem Ziel desertiert. Ich schaffte es zum Großen Haus, solange noch Licht am Himmel war.
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