Der Himmel, den ich über mir sah, war drei Milliarden Jahre älter als der, den ich zuletzt vom Rasen des Großen Hauses aus gesehen hatte. Man musste wohl damit rechnen, dass er alle möglichen Geheimnisse in sich trug.
Als wir wieder unterwegs waren, testete ich das Autoradio, das in der Nacht zuvor stumm geblieben war. Es war nichts Digitales zu empfangen, doch nach einigem Suchen erwischte ich einen Lokalsender auf dem FM-Band — einer von denen, die sich normalerweise ganz der Countrymusik und der Christlichkeit widmen. Jetzt allerdings wurde nur geredet. Ich erfuhr eine ganze Menge, bevor der Empfang schließlich im Rauschen unterging.
Ich erfuhr etwa, dass wir gut beraten gewesen waren, größere Städte zu meiden. Die Städte waren Katastrophengebiete — nicht auf Grund von Plünderungen und Gewalt (davon hatte es überraschend wenig gegeben), sondern wegen des völligen Zusammenbruchs der Infrastruktur. Der Aufgang der roten Sonne hatte so sehr nach dem lange vorhergesagten Tod der Erde ausgesehen, dass die meisten Leute einfach zu Hause geblieben waren, um gemeinsam mit ihren Familien zu sterben, und der städtische Betrieb weitgehend zum Erliegen kam: Polizei und Feuerwehr waren praktisch nicht mehr vorhanden, die Krankenhäuser hoffnungslos unterbesetzt.
Die vergleichsweise wenigen Leute, die sich zu erschießen versuchten oder große Mengen von Alkohol, Kokain, Oxycontin oder Amphetaminen einnahmen, verursachten in ihrer Unachtsamkeit die akutesten Probleme: sie wurden beim Autofahren bewusstlos oder ließen, während sie starben, brennende Zigaretten fallen. Wenn der Teppich dann zu glimmen begann oder die Vorhänge in Flammen aufgingen, war niemand da, um 911 zu wählen, und in vielen Fällen wäre bei der Feuerwehr auch niemand dagewesen, um den Anruf entgegenzunehmen. Kleine Feuer wurden auf diese Weise schnell zu Großbränden.
Vier große Rauchsäulen stiegen aus Oklahoma City auf, sagte der Nachrichtensprecher, und telefonischen Berichten zufolge lagen die südlichen Stadtteile von Chicago weitgehend in Schutt und Asche. Jede Großstadt im Land — sofern überhaupt Kontakt bestand — meldete wenigstens einen oder zwei außer Kontrolle geratene Brände.
Nachdem sich allerdings die Möglichkeit abgezeichnet hatte, dass die menschliche Rasse zumindest noch ein paar Tage länger überleben würde, waren wieder wesentlich mehr Notfallhelfer und kommunale Angestellte auf ihre Posten zurückgekehrt. (Die Kehrseite war, dass die Leute sich jetzt Sorgen machten, wie lange wohl ihre Vorräte reichen würden: Plünderungen von Lebensmittelgeschäften wurden zusehends zu einem Problem.) Wer keine unverzichtbaren Dienste zu leisten hatte, wurde aufgefordert, zu Hause zu bleiben — die Botschaft war vor Sonnenaufgang über Notübertragungssysteme und über jede noch funktionierende Radio- und Fernsehleitung verbreitet worden und wurde jetzt am Abend wiederholt. Was als Erklärung dafür dienen mochte, warum so wenig Verkehr herrschte. Ich hatte ein paar Militär- und Polizeipatrouillen gesehen, aber keine davon hatte uns aufgehalten, vermutlich wegen des Schildes an meinem Auto — nach dem ersten Flackern hatten die meisten Staaten, darunter auch Kalifornien, Notdienstplaketten an Ärzte ausgegeben.
Die Arbeit der Polizei war ohnehin lückenhaft. Das reguläre Militär blieb trotz mancher Desertationen mehr oder weniger intakt, doch die Einheiten der Reserve und der Nationalgarde waren arg reduziert und konnten die örtlichen Behörden nicht unterstützen. Lückenhaft war auch die Stromversorgung; die meisten Elektrizitätswerke waren unterbesetzt und kaum funktionstüchtig, sodass sich immer mehr Ausfälle über das Netz verbreiteten. Es gingen Gerüchte um, wonach die Atomkraftwerke San Onofre in Kalifornien und Pickering in Kanada kurz vor der Kernschmelze standen, aber dafür gab es bislang noch keine Bestätigung.
Der Nachrichtensprecher verlas eine Liste von Nahrungsmitteldepots und von Krankenhäusern, die ihren Betrieb aufrecht erhielten (mit geschätzten Wartezeiten), sowie Erste-Hilfe-Tipps für zu Hause. Und eine vom Wetteramt ausgegebene Warnung vor längeren Aufenthalten in der Sonne. Das Sonnenlicht scheine zwar nicht unmittelbar tödlich zu sein, doch eine übermäßige UV-Belastung könne, so hieß es, zu »langfristigen Problemen« führen — und das war ebenso traurig wie komisch.
Ich empfing noch einige vereinzelte Sendungen bis zum Morgengrauen, doch bald ließ die aufsteigende Sonne alles in Rauschen untergehen.
Der Tag brach unter Wolken an. Ich musste also nicht direkt ins grelle Sonnenlicht hineinfahren, aber selbst dieser gedämpfte Sonnenaufgang war bedrückend fremdartig. Die östliche Hälfte des Himmels wurde zu einer brodelnden Suppe aus rotem Licht, auf ihre Art ebenso hypnotisch wie die Glut eines erlöschenden Lagerfeuers. Gelegentlich teilten sich die Wolken, und bernsteinfarbene Sonnenstrahlen fingerten übers Land. Um die Mittagszeit jedoch hatte sich die Bewölkung verdichtet, und bald begann es zu regnen — ein heißer, lebloser Regen, der sich über den Highway legte und die kränklichen Farben des Himmels spiegelte.
Am Morgen hatte ich den letzten Benzinkanister in den Tank gefüllt, und irgendwo zwischen Cairo und Lexington begann sich die Nadel der Benzinanzeige bedrohlich dem roten Bereich zu nähern. Ich weckte Simon und sagte ihm, dass ich die nächste Tankstelle ansteuern würde — und jede weitere, die danach kam, bis wir eine gefunden hatten, die uns Benzin verkaufte.
Die nächste Tankstelle erwies sich als ein kleines familienbetriebenes Franchise mit vier Pumpen und angeschlossenem Imbiss, etwa einen halben Kilometer abseits des Highways gelegen. Der Laden war dunkel und die Pumpen vermutlich außer Betrieb, aber ich fuhr trotzdem vor, stieg aus dem Auto und nahm den Zapfhahn vom Haken.
Ein Mann mit einer Mütze der Cincinnati Bengals auf dem Kopf und einem Schrotgewehr in der Hand erschien von der Seite des Gebäudes her. »Das wird nichts«, sagte er.
Ich steckte den Zapfhahn langsam zurück. »Sie haben keinen Strom?«
»Richtig.«
»Und kein Notaggregat?«
Er zuckte mit den Achseln und kam näher. Simon schickte sich an, aus dem Wagen zu steigen, aber ich winkte ihn zurück. Der Mann mit der Bengals-Mütze — er war ungefähr dreißig und hatte schätzungsweise dreißig Pfund Übergewicht — besah sich den auf der Rückbank installierten Infusionstropf. Dann warf er einen Blick auf das Nummernschild. Es war ein kalifornisches, was mir vermutlich keine Goodwillpunkte einbrachte, doch die Notdienstplakette war deutlich zu sehen. »Sie sind Arzt?«
»Ja. Tyler Dupree. Dr. med.«
»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen nicht die Hand schüttele. Ist das Ihre Frau da drin?«
Ich bejahte, weil das unkomplizierter war, als lange Erklärungen abzugeben. Simon sah mich an, erhob aber keinen Einspruch.
»Haben Sie irgendwelche Papiere, die belegen, dass Sie Arzt sind? Nichts für ungut, aber es hat in den letzten Tagen eine Menge Autodiebstähle gegeben.«
Ich zog meine Brieftasche hervor und warf sie vor ihm auf den Boden. Er hob sie auf, betrachtete das Kartenfach, fischte eine Brille aus seiner Hemdtasche, sah noch einmal genau hin. Schließlich gab er mir die Brieftasche zurück. »Tut mir Leid, Dr. Dupree. Ich bin Chuck Bernelli. Wenn Sie nur Benzin brauchen, stelle ich die Pumpen an. Falls Sie mehr benötigen, kostet es mich eine Minute, den Laden zu öffnen.«
»Das Benzin brauche ich auf jeden Fall. Verpflegung wäre zwar schön, aber ich habe nicht viel Bargeld bei mir.«
»Zum Teufel damit. Für Kriminelle und Betrunkene — und daran herrscht momentan kein Mangel auf den Straßen — haben wir geschlossen, aber fürs Militär und für die Autobahnpolizei machen wir jederzeit auf. Und auch für Mediziner. Jedenfalls so lange es noch Benzin gibt. Ich hoffe, Ihrer Frau geht es nicht allzu schlecht.«
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