Unten sah ich jetzt eine Gestalt, die sich zwischen dem Haus und der Scheune bewegte. Simon war es nicht. Auch nicht Aaron Sorley, es sei denn, Bruder Aaron hatte in der Zwischenzeit fünfzig Kilo abgenommen. Vermutlich Pastor Dan Condon. Er trug in jeder Hand einen Eimer Wasser. Er schien in Eile zu sein. Irgendetwas ging in der Scheune vor.
»Du riskierst dein Leben«, sagte Simon.
Ich lachte. Ich konnte nicht anders. Dann sagte ich: »Bist du in der Scheune oder im Haus? Condon ist in der Scheune, stimmt’s? Was ist mit Sorley und McIsaac? Wie komme ich an denen vorbei?«
Ich spürte einen Druck im Nacken, wie von einer warmen Hand. Ich wandte mich um. Es war Sonnenlicht, das den Druck ausübte. Der Rand der Sonne war über den Horizont getreten. Mein Auto, der Zaun, der Fels, die dürren Umrisse der Kerzensträucher, alles warf lange violette Schatten.
»Tyler? Tyler, es gibt keinen Weg vorbei. Du musst…« Doch Simons Stimme ging in einem plötzlichen Rauschen unter. Das Licht der Sonne musste den Aerostaten, der den Anruf übertrug, erreicht und das Signal ausgelöscht haben. Instinktiv drückte ich auf die Wahlwiederholung, aber das Telefon war nicht mehr zu gebrauchen.
Ich kauerte an Ort und Stelle, bis die Sonne zu drei Vierteln aufgegangen war. Die Scheibe war riesig und rötlich orange. Sonnenflecken schwärten auf ihr wie eiternde Wunden. Hin und wieder erhoben sich Staubwolken aus der Wüste ringsum und verdeckten sie vorübergehend.
Dann erhob ich mich. Vielleicht schon tot. Vielleicht tödlich verstrahlt. Die Hitze war zu ertragen, bislang jedenfalls, doch auf zellulärer Ebene mochten üble Dinge vorgehen, vielleicht schossen Röntgenstrahlen durch die Luft wie unsichtbare Gewehrkugeln. Also stand ich auf und spazierte in aller Offenheit, unbewaffnet, über den ausgetretenen Weg auf das Farmhaus zu. Unbewaffnet und unbehelligt, jedenfalls bis ich die Holzveranda erreicht hatte und Bruder Sorley mitsamt seinen hundertdreißig Kilo durch die Fliegentür gestürmt kam und mir mit dem Kolben eines Gewehres seitlich gegen den Kopf schlug.
Bruder Sorley tötete mich nicht, womöglich, weil er nicht mit blutbefleckten Händen zur Entrückung antreten wollte. Stattdessen warf er mich in eines der Zimmer im Obergeschoss und schloss die Tür ab.
Einige Stunden vergingen, bis ich mich aufsetzen konnte, ohne dass mir übel wurde. Als das Schwindelgefühl endlich nachließ, schlurfte ich zum Fenster und ließ die gelbe Papierjalousie hoch. Von hier aus gesehen, stand die Sonne hinter dem Haus, der Hof und die Scheune waren in ein gleißendes Orange getaucht. Die Luft war brutal heiß, aber es brannte nirgendwo. Eine Katze, sichtlich desinteressiert an der Feuersbrunst am Himmel, schlappte stehendes Wasser aus einem schattigen Graben. Vermutlich würde die Katze den Sonnenuntergang noch erleben. Genau wie ich.
Ich versuchte das Fenster hochzuschieben — nicht, dass ich unbedingt von hier hätte nach unten springen können —, doch die Schieber waren abmontiert, die Gegengewichte unbeweglich gemacht worden, der ganze Rahmen schon vor Jahren gewissermaßen festlackiert.
Außer dem Bett befanden sich keine Möbel im Zimmer. Und keine Werkzeuge, nur das nutzlose Handy in meiner Tasche. Die Zimmertür war aus schwerem, solidem Holz, und ich bezweifelte, dass ich die Kraft hatte, sie aufzusprengen. Diane war vielleicht nur wenige Meter entfernt, womöglich trennte uns nur eine einzige Wand. Aber ob es wirklich so war, wusste ich nicht, und es gab keine Möglichkeit, es herauszufinden.
Schon der bloße Versuch, zusammenhängende Gedanken zu fassen, rief einen tiefen, Übelkeit erregenden Schmerz an der Stelle hervor, wo der Gewehrkolben mir den Kopf aufgeschlagen hatte. Ich musste mich wieder hinlegen.
Am Nachmittag legte sich der Wind. Als ich wieder zum Fenster schwankte, konnte ich den Rand der Sonnenscheibe über dem Haus und der Scheune sehen, so groß, dass man den Eindruck hatte, sie würde beständig fallen, und so nah, dass man gerade nach ihr greifen konnte.
Die Temperatur in dem Zimmer war seit dem Morgen stetig gestiegen. Ich hatte keine Mittel, sie zu messen, aber sie musste bei 40°C liegen, mit weiterer Tendenz nach oben. Heiß, doch keine tödliche Hitze, wenigstens nicht unmittelbar tödlich. Gern hätte ich jetzt Jason bei mir gehabt, um mir das erklären zu lassen: die Thermodynamik der globalen Auslöschung. Er hätte mir ein Diagramm aufmalen und zeigen können, wo die Temperaturkurve mit der Letalitätslinie konvergierte.
Hitzeflimmern stieg von der gebackenen Erde auf. Dan Condon lief noch mehrere Male zwischen Haus und Scheune hin und her. In der scharfen Intensität des orangefarbenen Tageslichts war er leicht zu erkennen, er hatte etwas von neunzehntem Jahrhundert an sich mit seinem quadratischen Bart und dem hässlichen, pockennarbigen Gesicht: Lincoln in Jeans, langbeinig, zielstrebig. Er blickte nicht auf, nicht einmal, als ich gegen das Fenster klopfte.
Dann trommelte ich gegen die Zimmerwände, dachte, dass Diane das vielleicht hören würde. Doch ich erhielt keine Reaktion.
Dann wurde mir wieder schwindlig und ich fiel aufs Bett zurück. Die Luft im Zimmer war schwül, mein Schweiß tränkte die Bettwäsche.
Ich schlief oder verlor das Bewusstsein.
Als ich wieder aufwachte, dachte ich für einen Moment, im Zimmer sei Feuer ausgebrochen — doch es war nur die stehende Hitze in Verbindung mit einem maßlos kitschigen Sonnenuntergang.
Ich ging zum Fenster. Die Sonne war über den westlichen Horizont gezogen und sank so rasch, dass man es mitverfolgen konnte. Spärliche Wolken standen hoch am sich verdunkelnden Himmel, Fetzen von Feuchtigkeit, einem bereits ausgedörrten Land entzogen. Ich sah, dass jemand mein Auto den Hügel hinabgerollt und auf der linken Seite der Scheune abgestellt hatte. Und zweifellos die Schlüssel an sich genommen hatte. Nicht, dass noch ausreichende Mengen Benzin im Tank gewesen wären oder man sonst mit dem Auto noch groß etwas hätte anfangen können.
Aber ich hatte den Tag überlebt. Wir hatten den Tag überlebt. Wir beide. Diane und ich. Und Millionen andere. Wir hatten es hier also mit der langsamen Version der Apokalypse zu tun: Sie würde uns töten, indem sie uns schonend kochte, Grad für Grad. Oder, sollte das nicht klappen, indem sie das Ökosystem der Erde ausbrannte.
Endlich verschwand die Sonne. Die Luft schien augenblicklich um zehn Grad abzukühlen. Vereinzelte Sterne lugten durch die Gazewolken.
Ich hatte lange nichts gegessen, geschweige denn getrunken. Vielleicht war es ja Condons Absicht, mich an Dehydration verrecken zu lassen. Vielleicht hatte er mich aber auch einfach vergessen. Ich hatte nicht den Hauch einer Vorstellung davon, wie Pastor Dan sich diese Ereignisse geistig zurechtlegte, ob er sich bestätigt fühlte oder schreckliche Angst hatte — oder eine Mischung aus beidem.
Das Zimmer wurde dunkel. Kein Deckenlicht, keine Lampe. Aber ich konnte ein leises Tuckern hören, wahrscheinlich ein mit Benzin betriebener Generator, und es drang Licht aus den Fenstern im Erdgeschoss und aus der Scheune.
Während ich an technischen Hilfsmitteln nichts besaß als mein Handy. Ich zog es aus der Tasche und schaltete es ein, ohne bestimmte Absicht, einfach nur, um das Phosphoreszieren des Displays zu sehen.
Dann kam mir ein anderer Gedanke.
»Simon?«
Stille.
»Simon, bist du das? Kannst du mich hören?«
Stille. Dann eine blecherne, digitalisierte Stimme: »Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt. Ich dachte, dieses Ding würde nicht mehr funktionieren.«
»Nur bei Tageslicht nicht.«
Sonnenrauschen hatte jegliches Signal der in großer Höhe schwebenden Aerostaten geschluckt. Nun aber schirmte die Erde uns vor der Sonne ab. Vielleicht hatten die Aerostaten Schäden davongetragen — die Verbindung klang nach Niedrigfrequenz und war von Rauschen durchsetzt —, doch es reichte, um sich zu verständigen.
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