Die Sterne.
»Sehen Sie?«, sagte Fulton. »Ganz anders. Ich kann keines von den alten Sternbildern erkennen. Alles sieht irgendwie so… verstreut aus.«
Mehrere Milliarden Jahre können so etwas bewirken. Alles altert, sogar der Himmel, alles strebt einem Höchstmaß an Entropie, Unordnung, Zufälligkeit entgegen. Unsere Galaxis war in den vergangenen drei Milliarden Jahren von unsichtbaren Kräften mächtig durcheinander gewirbelt worden, ja hatte sich mit einer kleineren Satellitengalaxis — M41 in den alten Katalogen — vermischt, sodass die Sterne nun in ganz und gar nichtssagender Anordnung am Himmel verteilt waren.
»Alles klar mit Ihnen, Dr. Dupree? Vielleicht wollen Sie sich lieber hinsetzen.«
Zu betäubt, um zu stehen, ja. Ich setzte mich auf den gummierten Beton, ließ die Füße in den leeren Pool baumeln, und blickte immerfort nach oben. Nie zuvor hatte ich etwas so Schönes oder so Furchterregendes gesehen.
»Nur noch wenige Stunden bis Sonnenaufgang«, murmelte Fulton.
Ja, hier. Weiter östlich, irgendwo über dem Atlantik, musste die Sonne bereits über den Rand des Horizonts gestiegen sein. Ich wollte ihn danach fragen, aber da ertönte eine piepsige Stimme aus dem Schatten nahe beim Eingang.
»Dad? Ich hab dich reden hören.« Jody, die Tochter. Sie kam zögernd näher. Sie trug einen weißen Pyjama und war in ein Paar Schuhe geschlüpft, ohne sie zuzubinden. Sie hatte ein breites Gesicht — schlicht, aber hübsch — und schläfrige Augen.
»Komm her, mein Schatz«, sagte Fulton. »Setz dich auf meine Schultern und sieh dir den Himmel an.«
Sie kletterte, immer noch verwirrt, an ihm hoch, und Fulton hob sie, die Hände um ihre Fußknöchel gelegt, der glitzernden Dunkelheit entgegen.
»Sieh nur, Jodie«, sagte er und lächelte ungeachtet der Tränen, die ihm über das Gesicht liefen. »Wie weit man heute Nacht sehen kann. Heute kann man praktisch bis ans Ende der Welt sehen.«
Ich ging wieder rein, um zu sehen, was es im Fernsehen an Nachrichten gab. Das Flackern hatte vor etwa einer Stunde aufgehört. Es war einfach verschwunden, zusammen mit der Spinmembran. Der Spin war so still zu Ende gegangen, wie er begonnen hatte, ohne Fanfare, überhaupt ohne Geräusch, abgesehen von einem atmosphärischen Rauschen von der Sonnenseite des Planeten her.
Die Sonne.
Drei Milliarden und ein paar zerquetschte Jahre älter geworden. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was Jason mir über ihren Zustand erzählt hatte. Tödlich, keine Frage. Das Bild von überkochenden Meeren war in den Medien lang und breit ausgemalt worden — aber hatten wir diesen Punkt schon erreicht? War bis Mittag alles vorbei, oder blieb noch Zeit bis zum Ende der Woche?
Spielte das überhaupt eine Rolle?
Ich schaltete den kleinen Videoschirm in meinem Zimmer an und stieß auf eine Liveübertragung aus New York. Es hatte keine größere Panik gegeben — zu viele Leute schliefen noch oder hatten auf die morgendliche Fahrt zur Arbeit verzichtet, nachdem sie aufgewacht waren, die Sterne erblickt und die naheliegenden Schlüsse daraus gezogen hatten. Das Nachrichtenteam hatte, wie in einem Fiebertraum heroischen Journalismus, auf dem Dach eines Gebäudes auf Staten Island eine Kamera aufgebaut. Das Licht war trübe, der östliche Himmel hellte sich auf, doch es war noch nichts zu sehen.
Seit dem Ende des Flackerns, wurde mitgeteilt, sei keine Verbindung nach Europa zustandegekommen, was auf elektrostatische Interferenzen zurückzuführen sein könnte — vielleicht hatte das ungefilterte Sonnenlicht alle von den Aerostaten übermittelten Signale geschluckt. Es war noch zu früh, um allzu unheilvolle Schlüsse zu ziehen. »Da wir noch keine offiziellen Reaktionen haben«, sagte der Moderator, »ist der beste Rat, den wir Ihnen geben können, wie immer der, zu Hause vor den Geräten zu bleiben und abzuwarten, bis sich die Lage geklärt hat.«
»Gerade heute«, ergänzte seine Komoderatorin, »werden alle Leute möglichst bei ihren Familien bleiben wollen.«
Ich saß auf der Bettkante meines Motelzimmers und sah weiter zu.
Bis die Sonne aufging.
Die Kamera fing sie zunächst als eine karmesinrote Wolkenschicht ein, die über den öligen Horizont des Atlantiks strich. Dann kam ein glühender Rand, und Filter schoben sich vors Objektiv, um das grelle Licht abzudämpfen.
Ihr Umfang war schwer abzuschätzen, aber sie stieg auf — nicht ganz rot, eher ein rötliches Orange, sofern dies nicht Resultat von Kameramanipulationen war —, bis sie über dem Meer, über Queens und Manhattan schwebte, zu groß eigentlich, um als Himmelskörper durchzugehen, eher wie ein gewaltiger, mit bernsteinfarbenem Licht gefüllter Ballon.
Ich wartete auf weitere Kommentare, doch das Bild blieb stumm, bis zu einem Studio im mittleren Westen, dem Ausweichhauptquartier des Senders, umgeschaltet wurde und jemand ins Bild kam, der zu schlecht zurechtgemacht war, als dass es sich um einen regulären Moderator handeln konnte, und der völlig sinnlose Warnungen von sich gab. Ich schaltete den Apparat aus.
Und trug mein Gepäck zum Auto.
Fulton und Jody kamen aus dem Büro, um mich zu verabschieden. Plötzlich waren sie alte Freunde, denen es Leid tat, dass ich gehen musste. Jody sah ziemlich ängstlich aus. »Sie hat mit ihrer Mama gesprochen«, sagte Fulton. »Die hatte noch nichts von den Sternen gehört.«
Ich versuchte mir das frühmorgendliche Gespräch auszumalen: Wie Jody aus der Wüste anruft und ihrer Mutter etwas mitteilt, das diese als unmittelbares Bevorstehen des Weltuntergangs begreifen muss. Wie Jodys Mutter Abschiedsworte an ihre Tochter richtet und zugleich versucht, sie nicht zu Tode zu erschrecken, sie vor der schrecklichen Wahrheit zu schützen.
Nun lehnte Jody sich gegen ihren Vater, und dieser legte zärtlich den Arm um sie. »Müssen Sie wirklich wegfahren?«, fragte sie.
Ich nickte.
»Wenn Sie wollen, können Sie nämlich hier bleiben. Hat mein Papa gesagt.«
»Mr. Dupree ist Arzt«, sagte Fulton sanft. »Vermutlich muss er einen Hausbesuch machen.«
»Das stimmt«, erwiderte ich. »Das muss ich.«
Viele Menschen benahmen sich sehr schlecht an diesem Morgen, in ihren vermeintlich letzten Stunden. Es war, als sei das Flackern nur eine Probe für das bevorstehende Ende gewesen. Wir hatten die Vorhersagen gehört: brennende Wälder, sengende Hitze, verdampfende Meere. Die Frage war nur, ob es einen Tag, eine Woche oder einen Monat dauern würde.
Und so schlugen wir Fenster ein, nahmen das, was uns gefiel, nahmen jeden Plunder, den uns das Leben vorenthalten hatte. Männer versuchten Frauen zu vergewaltigen, wobei etliche von ihnen feststellen mussten, dass der Verlust aller Hemmungen in beide Richtungen funktionierte und das vermeintliche Opfer die Fähigkeit entwickelte, seinem Widersacher ins Auge zu stechen oder in die Hoden zu treten. Alte Rechnungen wurden mit der Waffe beglichen. Die Selbstmorde waren Legion. (Ich dachte an Molly. Wenn sie nicht schon seit dem ersten Flackern tot war, dann starb sie mit Sicherheit jetzt, starb vielleicht sogar voller Befriedigung über das Aufgehen ihres Plans. Zum ersten Mal überkam mich das Bedürfnis, um sie zu weinen.)
Doch es gab auch Inseln des Anstands und Handlungen von heroischer Selbstlosigkeit. Die Interstate 10 an der Grenze nach Arizona war eine solche Insel.
Während des Flackerns war eine Abteilung der Nationalgarde an der Brücke über den Colorado River stationiert gewesen. Die Soldaten waren jedoch kurz nach dem Ende des Flackerns verschwunden, zurückbeordert vielleicht oder einfach auf ungenehmigtem Urlaub, unterwegs nach Hause, und ohne sie hätte die Brücke zu einem unpassierbaren Nadelöhr werden können.
Wurde sie aber nicht. Ein Dutzend Zivilisten, Freiwillige mit Taschenlampen oder Signalleuchten aus ihrer Notfallausrüstung, hatte die Aufgabe übernommen, den Verkehr zu regeln. Und sogar die ewig Eiligen — die Leute, die bis Sonnenaufgang noch eine weite Strecke zurücklegen wollten oder mussten, nach New Mexico, Texas oder sogar Louisiana, falls ihnen der Motor nicht vorher wegschmolz —, sogar sie schienen zu begreifen, dass das notwendig war, dass jeder Versuch, sich vorzudrängeln, aussichtslos war und es keine Alternative dazu gab, sich in Geduld zu üben. Ich weiß nicht, wie lange diese Stimmung anhielt oder was sie hatte entstehen lassen. Vielleicht war es menschliche Solidarität, vielleicht war es aber einfach auch das Wetter: ungeachtet des aus Osten auf uns zurollenden Verhängnisses war es eine pervers schöne Nacht. Verstreute Sterne in einem klaren, kühlen Himmel; eine anregende Brise, die den Auspuffgestank fortwehte und so sanft durchs Autofenster strich wie die Hand einer sorgenden Mutter.
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