Joyce schaltete sich ein. »Niemand verdrängt Parker oder lehnt ihn ab. Die Folkmusik tut etwas völlig anderes. Sie unterscheidet sich vom Jazz. Es gibt keinen Streit zwischen beiden.«
Tom ahnte, dass sie diese Diskussion schon früher geführt hatten und dass Millstein seine persönlichen Gründe hatte, um das Thema zur Sprache zu bringen. »Es ist die Musik der Weißen«, sagte Millstein.
»In den Folk-Cafés findet mehr soziale Kritik statt als in den Jazzbars«, erwiderte Soderman.
»Aber das ist doch der Punkt. Folkmusik ist wie ein College-Text. All diese ernsthaften kleinen Predigten. Jazz ist das eigentliche Thema. Das ist der Stoff, den die Predigten behandeln. Das gesamte Schwarzendasein ist darin eingebettet.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Tom. »Dass die Weißen keine Musik machen sollten?«
Augen richteten sich auf ihn. Soderman hob die Hand. »Sieh mal an, der Fernsehmann spricht!«
Millstein hatte ziemlich viel Bier getrunken und war streitsüchtig. »Was, zum Teufel, weißt du denn schon von den Schwarzen und ihrem Leben?«
»Kein bisschen«, sagte Tom freundlich. »Verdammt noch mal, Larry, ich bin genauso weiß wie du!«
Lawrence Millstein öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Einen Moment lang herrschte Stille… dann brachen alle am Tisch in brüllendes Gelächter aus. Millstein brachte endlich einen Ton hervor — es hätte ein Leck mich doch sein können —, aber es ging in dem Lärm unter, und Tom konnte es ignorieren.
Joyce lachte ebenfalls, dann lenkte sie die Unterhaltung in eine weniger gefährliche Richtung. Sie habe einen Brief von jemandem namens Susan bekommen, die in einer ländlichen Gegend Georgias politische Aufklärungsarbeit leiste. Offenbar hatte Susan, ehemalige Vassar-Studentin, während ihrer Zeit im Village ein ziemlich wildes Leben geführt. Jeder wusste irgendeine Anekdote über Susan zu berichten. Joyce lehnte sich erleichtert zurück.
Sie beugte sich zu Tom hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Pass auf, dass du ihn nicht wütend machst.«
Er zuckte die Achseln. »Ich glaube, es ist schon zu spät«, flüsterte er zurück und bestellte sich dann ein frisches Bier.
Er hatte jenen empfindlichen Punkt erreicht, an dem er noch nicht richtig betrunken, aber auch nicht mehr nüchtern war. Er entschied, dass seine neuen Bekannten nette Leute waren. Er konnte sie gut leiden. Als sie von Stanley’s aufbrachen, folgte er ihnen. Joyce ergriff dabei seine Hand.
Die Nachtluft war warm und völlig still. Sie gingen an Häusern vorbei, auf deren Veranden sich Menschen drängten, an trüben Straßenlaternen, an Lärm und an einem Friseurladen, aus dem penetranter Barbasolgeruch herausdrang. Sie gelangten zu einem alten Gebäude, gingen hinein und kamen in ein lang gestrecktes Zimmer voller Bücherregale und schlechter, amateurhafter Gemälde. »Das ist Lawrences Apartment«, vertraute Joyce ihm an. Er fragte: »Was habe ich denn hier zu suchen?« Und sie antwortete: »Er veranstaltet eine Party.«
In den Regalen standen vorwiegend Gedichtbände, die Evergreen Review und moderne Romane. Die Schallplattensammlung war umfangreich und beeindruckend. Es gab sogar alte 78er-Platten von Bix Beiderbecke. Die HiFi-Anlage sah ziemlich teuer aus: ein Rek-O-Cut-Plattenspieler und ein Verstärker mit einer ganzen Röhrenbatterie. »Musik!«, rief jemand, und Tom beobachtete, wie Millstein eine John-Coltrane-Platte aus der Hülle holte und auf den Plattenteller legte — die Geste wirkte beinahe ehrfürchtig. Plötzlich war der Raum von Musik erfüllt…
Tom sah, wie Soderman die Jalousien herunterließ, den Blick auf die Fourteenth Street versperrte, während jemand anderer eine Holzbox mit einer Viertelunze braunen Marihuanas und ein Päckchen Zig-Zag-Zigarettenpapier auf den Tisch legte. Tom fand die Ernsthaftigkeit dieses Rituals amüsant, ebenso ein paar misstrauische Blicke in seine Richtung — war dieser neue Typ vertrauenswürdig? Er kam herüber und sagte: »Lass mal, ich dreh einen.«
Lächeln. »Weißt du denn, wie?«, fragte Joyce.
Er klebte zwei Blättchen Papier zu einem großen zusammen. Seine Technik war etwas eingerostet — es war schließlich schon lange her —, aber er brachte einen glaubwürdigen Joint zustande. Soderman nickte anerkennend. »Wo hast du das gelernt?«
»Auf dem College«, antwortete er geistesabwesend.
»Und wo warst du auf dem College?«
»Im landwirtschaftlichen Herzland der nordwestlichen Pazifikstaaten.« Er lächelte. »Ein Zündholz?«
Er wollte lediglich seine kameradschaftliche Haltung demonstrieren, doch das Dope stieg ihm sofort in den Kopf. Coltranes Saxophon, das aus einem einzigen Lautsprecher drang, wurde zu einem großen, glockengleichen Instrument. Er beschloss, Lawrence Millstein dafür zu mögen, dass er diese Musik liebte, dann erinnerte er sich an seine dumme Ansprache in der Bar und an Joyces Warnung — Pass auf, dass du ihn nicht wütend machst —, die etwas über seine Launenhaftigkeit aussagte und darüber, was sie in dieser Hinsicht schon erlebt haben mochte. Er schaute zu Joyce, die als Silhouette in der Türöffnung von Lawrences hässlicher Küche zu sehen war. Er erinnerte sich an das halbe Versprechen, das sie ihm gegeben hatte, und an die Möglichkeit, sie in den Armen zu halten, mit ihr ins Bett zu gehen. Sie war sehr jung und nicht so raffiniert, wie sie gerne erschienen wäre. Sie verdiente etwas Besseres als Lawrence Millstein.
Die Coltrane-Platte war zu Ende. Millstein legte etwas auf, das Tom nicht erkannte, schnellen Bebop, eine wütende Musik, schlecht aufgenommen, weil das Mikrofon zu nahe an der Trompete war — sie klang wie ein Klavier in heftigem Kampf mit einer riesigen Wespe. Die Party wurde lauter. Leicht desorientiert setzte er sich in einen freien Sessel in einer Ecke des Raums und ließ die Musik über sich hinwegspülen. Es klopfte an der Tür, das Dope wurde sorgfältig versteckt, die Tür ging auf — es war eine Freundin von Soderman, eine Frau in schwarzem Rollkragenpullover, die einen Gitarrenkoffer trug. Laute Willkommensrufe. Joyce ging zum Plattenspieler und nahm den Tonarm von der Platte. Millstein bekam es am anderen Ende des Raums mit. »Sei vorsichtig damit!«, brüllte er.
Joyce lieh sich die Gitarre, stimmte sie und spielte ein paar Akkorde und Bassläufe. Schnell hatten sich fünf oder sechs Leute um sie versammelt. Sie hatte rote Wangen — vom Trinken oder vom Dope oder von der Aufmerksamkeit, die man ihr zollte —, und ihre Augen waren ein wenig glasig. Aber als sie sang, klang es wundervoll. Sie sang traditionelle Folkballaden, »Fannerio«, »Lonesome Traveler«. Wenn sie redete, klang sie zaghaft oder schüchtern oder spöttisch, aber die Stimme, die sie jetzt entwickelte, war völlig anders. Es war eine Stimme, die Tom aufmerken und sie erstaunt anstarren ließ. Er hatte sie überaus sympathisch gefunden, ohne zu ahnen, dass diese Stimme in ihr steckte. Der Ausdruck seines Gesichts musste reichlich spaßig sein. Sie lächelte ihn an. »Komm, spiel mal!«, sagte sie.
Er schüttelte heftig den Kopf. »Oh nein, niemals!«
»Ich hab dich auf der Gitarre klimpern hören, die du mitgebracht hast. Du bist gar nicht schlecht.«
Soderman hatte es mitbekommen. »Unser Fernsehtechniker spielt Gitarre?«
Wenn er etwas nüchterner gewesen wäre, hätte er sich niemals darauf eingelassen. Aber, zum Teufel, was war daran schlimm — wenn er schlecht war, dann sah Joyce dafür umso besser aus. Und Joyce in den Vordergrund zu schieben, erschien ihm als eine überaus noble Geste.
Jahrelang hatte er seine Gitarre etwa einmal im Monat aus dem Koffer geholt, damit er das bisschen Technik nicht verlernte, über das er verfügte. Im College hatte er sich ernsthaft bemüht — jedenfalls so ernsthaft, dass er Unterricht bei einem alkoholsüchtigen Lehrer namens Pegler genommen hatte, der behauptete, 1965 in Haight Ashbury eine Folkband geleitet zu haben. (Pegler, wo treibst du dich im Augenblick herum?) Er ließ sich von Joyce die Gitarre reichen und überlegte, was er spielen könnte. »Guantanamera«? Irgendeine alte Weavers-Ballade? Aber er erinnerte sich an einen Song, den er sich vor vielen Jahren selbst beigebracht hatte, von einem alten Album von Fred Neil, und er verließ sich auf seine Inspiration und sein Glück, die alten Akkordwechsel richtig hinzubekommen.
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