Sie hob die Augenbrauen. »Deine Unschuld?«
Um seinen Job zu feiern, waren sie zu Stanley’s gegangen, eine neue Bar auf der Lower East Side. Tom hatte angefangen, sich mit der Geographie der Stadt vertraut zu machen. Er begriff, dass das East Village noch mehr dem Underground zuzurechnen war als das West Village, eine Bushaltestelle von der U-Bahn entfernt. Deshalb spendierte Stanley manchmal Freibier, um sich einen festen Gästestamm zu schaffen. Lawrences Wohnung war ganz in der Nähe, und Joyces Wohnung war auch nicht weit entfernt, und außerdem war in den etwas bunteren Bezirken um die Bleecker und die MacDougal Street sowieso nichts los.
Tom freute sich über den Job und war etwas nervös im Hinblick auf den Abend.
Joyce bot ihm eine Zigarette an. Er lehnte ab. »Danke, ich rauche nicht.«
»Du hast ja so gut wie keine Laster, Tom.« Sie zündete sich selbst eine an. Das Büro bei Aerotech, in dem er gearbeitet hatte, war zur rauchfreien Zone erklärt worden. Keiner von Barbaras Freunden hatte geraucht, und den Verkäufern im Autoladen wurde ebenfalls empfohlen, darauf zu verzichten. Er hatte völlig vergessen, was für ein faszinierendes kleines Ritual das Anzünden einer Zigarette sein konnte. Joyce führte es mit natürlicher Grazie aus, löschte das Zündholz, indem sie damit hin und her wedelte und es dann in den Aschenbecher fallen ließ. In einer Stunde, wenn der Betrieb in der Bar zunahm, wäre die Luft mit blauem Qualm geschwängert. Die vehementen Attacken von C. Everett Koop waren noch ein Vierteljahrhundert entfernt.
»Wenigstens trinkst du Alkohol.«
»Aber nur sehr mäßig.« Er hatte sich ein Bier bestellt. »Früher habe ich mehr getrunken. Tatsächlich war ich kein besonders erfolgreicher Alkoholiker. Mein Arzt sagte mir, es sei für mich zu schwierig, richtig heftig zu trinken, und zu einfach, um damit aufzuhören. Er sagte, mir fehle wohl das Gen für Alkoholismus — es sei in meiner DNS einfach nicht vorhanden.«
»In deiner was?«
»Ich bin nicht so veranlagt.«
»Hoffnungslos tugendhaft.« Sie zog an ihrer Zigarette. »Irgendetwas bedrückt dich, nicht wahr?«
»Ich habe heute Abend keine Lust, vielen Fragen auszuweichen.«
»Von mir oder…«
Er vollführte eine vage Handbewegung — nein, nicht von ihr.
»Nun, die Leute sind neugierig. Der Punkt ist der, Tom, dass du so gewöhnlich bist. Man kommt hierher und redet über nonkonformes Verhalten und über die, die außerhalb stehen und sich von allem fernhalten und so weiter, aber sie alle sind ganz bestimmte Typen. Jeder hat seine bestimmte Masche. Man kann es ihnen schon von weitem ansehen. Da ist der zornige junge Dichter. Der linke Folksänger. Der satte Werbemanager, der seine Jugendlichkeit unter Beweis stellen will. Und so weiter. Die echten, wahren Nulltypen sind sehr selten.«
Er lachte. »Und ich bin ein solcher Nulltyp?«
»Aber ganz gewiss.«
»Ist das nicht auch eine ganz bestimmte Masche?«
Sie lächelte. »Aber die Masche mag niemand richtig. Wenn du nicht einfach nur so herumhängen willst, Tom, dann gibt es für dich gewisse Möglichkeiten.«
»Als da wären?«
»Nun, du könntest irgendwoanders hingehen. Du könntest allen sagen, sie sollten dich in Ruhe lassen. Oder wir könnten irgendwoanders hingehen. Jetzt oder später.«
Sie saß ihm am Tisch gegenüber, hatte eine Hand leicht abgewinkelt, und der Rauch ihrer Zigarette kräuselte sich zur Decke. Das Licht war recht sparsam, aber sie wirkte bildschön. Sie hatte ihr langes Haar nach hinten gebunden. Ihre Augen blickten aufmerksam, fragend, und leuchteten durch die vergrößernde Wirkung ihrer Brillengläser besonders blau. Er merkte sehr wohl, dass sie Hemmungen hatte, dieses Angebot zu machen.
Es gab aber auch keinen Zweifel, was das Angebot anging. Tom hatte das Gefühl, als sei ihm der Stuhl abrupt unter dem Gesäß weggezogen worden. Er kam sich völlig schwerelos vor.
»Was ist mit Lawrence?«, wollte er wissen.
»Lawrence hat einige Probleme. Oder, ich weiß es nicht, vielleicht sind es auch meine Probleme. Er sagt, er will mich nicht als Besitz betrachten. Er will auch nicht, dass jemand anderer das tut. Er sagt, er sei sich nicht ganz klar über sich selbst. Und zwar was mich betrifft.«
Tom dachte darüber nach, als die Tür aufging und ein paar Leute aus der Hitze des Abends von der Avenue B hereinkamen. Ihre Freunde. »Joyce!«, rief einer von ihnen laut.
Sie sah Tom bedauernd an, hob die Schultern, lächelte und bildete mit dem Mund ein Wort, das »später« heißen konnte.
Wie jeder Immigrant — jeder Flüchtling — passte er sich an seine neue Umgebung an. Es war unmöglich, in einem Zustand ständigen Staunens zu leben. Aber das Wissen, wo er war und wie er dorthin gelangt war, ging ihm nur selten aus dem Sinn.
Neunzehnhundertzweiundsechzig. Die Berliner Mauer war weniger als ein Jahr alt. John F. Kennedy residierte im Weißen Haus. Die Sowjets trafen Vorbereitungen, Raketen nach Kuba zu schicken, und legten den Grundstein zu einer Krise, die schließlich doch nicht in einen Atomkrieg mündete. In Europa brachten Frauen Kinder zur Welt, die durch die Wirkung von Contergan missgebildet waren. Martin Luther King setzte sich an die Spitze der Bürgerrechtsbewegung. In diesem Herbst würde es Unruhen in Oxford, Mississippi, geben. Und die Yanks würden in der World Series die Giants schlagen.
Vertrauliche Informationen.
Er wusste das alles; aber er fühlte sich noch immer von der Unterhaltung ausgeschlossen, die um ihn herum in Gang kam. Für eine Weile unterhielten sie sich über Bücher und Bühnenstücke. Soderman, der Romancier, der Tom den Tip mit der Fernsehreparaturwerkstatt gegeben hatte, äußerte seine kritische Meinung zu Ionesco. Soderman war ein netter Kerl; er hatte ein junges, rundes Eichhörnchengesicht mit einem Bürstenhaarschnitt auf dem Kopf und einem Bartsaum unter seinem Kinn. Er war durchaus sympathisch, aber er hätte ebenso gut Griechisch sprechen können. Ionesco war ein Name, den Tom schon mal gehört hatte, den er aber nicht einordnen konnte. Er war nicht mehr als eine vage Erinnerung an irgendeinen englischen Anfängerkurs. Desgleichen Beckett und Jean Genet. Er lächelte geheimnisvoll an den, wie er meinte, richtigen Stellen.
Dann lieferte Lawrence Millstein einen verbalen Leitartikel über die Unterschiede zwischen Folk und Jazz, und Tom hörte vertrautere Töne. Millstein war ein Vertreter der alten Schule und an diesem Tisch hoffnungslos unterlegen. Er hasste die Café-Folk-Szene und hegte nostalgische Gefühle für die mächtigen Götter des Tenorsaxophons.
Er sah auch entsprechend aus. Wenn Tom die Besetzung für eine Filmversion von On The Road hätte zusammenstellen müssen, hätte er sicherlich Millstein für eine Atmosphäre schaffende Nebenrolle ausgesucht. Er war hochgewachsen, schlank, dunkelhaarig, und in seinem Auftreten lag etwas Einstudiertes, Bemühtes. Joyce beschrieb ihn als »einen Raskolnikoff-Typen, zumindest gibt er sich alle Mühe, so zu erscheinen«.
Millstein hielt einen zwanzigminütigen Monolog über Charlie Parker und die »Qual der Negerseele«. Tom hörte mit wachsendem Unmut zu, schwieg aber — und trank. Er kannte die Musik, von der Lawrence sprach. Während seiner Trennung von Barbara und nach der Scheidung hatte er manchmal den Eindruck gehabt, dass Parker — und Thelonius Monk und der Miles Davis der Sketches-of-Spain- Ära und Sonny Rollins und Oliver Nelson — das Einzige gewesen war, was sie zusammengehalten hatte. Er hatte seine ramponierten Langspielplatten gegen die CD-Versionen von einigen dieser Aufnahmen ausgetauscht. Irgendwie war es eine Anomalie, dachte er manchmal, dass diese alten monophonen Aufnahmen von einer Lasertechnologie entziffert wurden. Aber die Musik drang weiterhin aus den Lautsprechern. Er liebte sie, weil es keine Musik war, bei der man in sein Bier weinen konnte. Sie war niemals traurig. Sie linderte das persönliche Leid, sie machte es einem bewusst, aber manchmal — an den guten Abenden — half sie einem, das Leid weit hinter sich zu lassen. Tom hatte immer diese seltsame Art und Weise bewundert, wie die Musik Traurigkeit in Freude verwandeln konnte, und es ärgerte ihn, anhören zu müssen, wie Millstein sich derart selbstgerecht darüber äußerte.
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