Vielleicht könnte sie ihn nie mehr erreichen.
Er legte behutsam eine Hand auf ihren Arm. Sie wehrte sich nicht gegen diese Geste, und sie umarmten sich. Besonders schlimm war die Erinnerung daran, wie sehr sie es geliebt hatte, von ihm festgehalten zu werden. Wie sehr sie es vermisste.
Sie sagte: »Vergiss nicht, die Katze zu füttern.«
»Ich habe keine Katze.«
»Dann einen Hund? Als ich durchs Fenster sah, glaubte ich, ich hätte…«
»Du hast dich sicherlich geirrt.«
Seine erste echte Lüge, dachte Barbara. Er war immer schon ein schlechter Lügner gewesen.
In einer Ecke des Wohnzimmers erwachte der Fernseher flackernd zum Leben — offenbar von selbst. Sie vermutete, dass er von einer Zeitschaltuhr gesteuert wurde.
Er sagte: »Du gehst jetzt besser.«
»Nun, was soll ich sagen?«
Er drückte sie etwas fester an sich. »Ich glaube, alles, was uns bleibt, ist, einander Lebewohl zu sagen.«
Tom Winter erwachte zufrieden und bereit für den letzten Tag, den er in den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts verbringen wollte. Ihm kam der Gedanke, dass er nur einen kleinen Vorsprung vor dem Zeitplan hatte. Ein paar Monate noch, bis zum 1. Januar, dann wäre es so weit, dann würde die Menschheit die Neunzigerjahre begrüßen. Es war eine Art Massenexodus, Ratten, die das sinkende Schiff dieses Jahrzehnts verließen, um in die mit Haien verseuchten Fluten des nächsten zu geraten. Er war nicht viel anders. Nur etwas klüger.
Vorausgesetzt natürlich, dass die Maschinenkäfer ihm gestatteten, die Reise anzutreten.
Aber er hatte keine Angst mehr vor den Maschinenkäfern.
Er duschte, kleidete sich an und bereitete sich eine kräftige Mahlzeit in der Küche zu. Es war ein schöner Frühsommertag. Der Wind, der durch die Fliegentür hereindrang, war gerade kühl genug, um zu erfrischen; der Himmel war ausreichend blau, um einen gemütlichen Nachmittag zu verheißen. Als er die Kaffeemaschine ausschaltete, hörte er einen Specht an einem der hohen Bäume hinter dem Garten herumhacken. Der Geruch von Kiefern und Fichten und von frischem Gras stieg ihm in die Nase.
Es war fast zu schön, als dass er weggehen wollte. Aber nur fast.
Er hatte eigentlich keine Angst mehr vor den Maschinenkäfern, und sie hatten keine Angst vor ihm. Sie waren miteinander vertraut geworden. Er entdeckte jetzt einen von ihnen — einen von den kleineren, nicht größer als ein Daumennagel —, wie er sich an dem Spalt entlangbewegte, wo der Fliesenboden auf die Wand traf. Er bückte sich und schaute ihm unverwandt bei seiner Arbeit zu. Der Käfer sah aus wie ein Tausendfüßler, den jemand aus Achat, Smaragden und Rubinen zusammengefügt hatte. Er entdeckte einen Toastkrümel, steuerte darauf zu und berührte ihn mit seiner haarfeinen Antenne. Der Krümel verschwand. Verdampft oder irgendwie verdaut — Tom wusste es nicht.
Vorsichtig hob er den Maschinenkäfer auf und barg ihn in seiner Handfläche.
Bei seiner Berührung erstarben die Bewegungen des Käfers. Reglos dasitzend, fühlte er sich auf seiner Haut stachelig und warm an. Er sah aus, dachte Tom, wie eine Rarität aus einem Andenkenladen irgendwo in Arizona, wie ein Ohrring oder ein Manschettenknopf.
Er legte ihn auf die Ablage. Nach einem Moment richtete der Käfer sich auf und krabbelte davon, indem er seine Arbeit dort wieder aufnahm, wo sie unterbrochen worden war.
Vor ein paar Tagen waren die Maschinenkäfer in seinen kleinen Sony-Fernseher gekrochen und hatten ihn modifiziert und repariert. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete das Gerät ein, trank einen Schluck Kaffee, aber es kam nur ein kurzes Stück der Tonight-Show — dreißig Sekunden über einen Beinahezusammenstoß über dem O’Hare International —, und dann verschwand das Bild. Der Schirm wurde leuchtend blau; weiße Buchstaben entstanden.
HILF UNS TOM WINTER
sagte der Fernseher.
Er schaltete ihn aus und verließ das Zimmer.
Der Fernseher hatte gestern beinahe Barbaras Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Und seine »Katze« — einer der größeren Maschinenkäfer.
In gewisser Hinsicht war er ihr dankbar, dass sie diese Dinge gesehen hatte. Die Vorstellung war noch immer da — und erschien manchmal geradezu überwältigend —, dass er die Grenze zum kompletten Wahnsinn überschritten hatte. Oder zumindest zu einem Wahnsinn, der auf das Anwesen und das Haus beschränkt war, sozusagen einem ortsgebundenen Wahnsinn. Aber Barbara hatte diese Erscheinungen gesehen, und er hatte sie hinauskomplimentieren müssen, ehe sie noch mehr sah. Es waren tatsächlich Ereignisse, so unerklärlich sie auch sein mochten.
Barbara hätte es nicht verstanden. Nein, das war das falsche Wort — auch Tom konnte nicht behaupten, dass er diese Ereignisse verstand. Enorme Rätsel waren noch zu lösen. Aber er akzeptierte sie.
Seine Bereitschaft, das offenbar Unmögliche anzunehmen, war nahezu grenzenlos. Sie existierte in dieser Form wahrscheinlich seit dem Abend, als er die Kellerwand durchbrochen hatte.
Er dachte an diesen Abend und an die Tage und Nächte danach. Es waren helle, leuchtende Erinnerungen, deren Glanz zunahm, je öfter er sie sich ins Bewusstsein rief.
Er stemmte große, staubige Stücke aus der Gipswand, bis das Loch groß genug war, damit er hindurchkriechen konnte.
Der Raum dahinter war dunkel. Er tastete ihn mit dem Strahl seiner Taschenlampe ab, aber die Batterien waren offenbar bereits ziemlich schwach — er konnte keine gegenüberliegende Wand finden. Es schien auch keine zu existieren.
Es sah aus…
Tja, es sah aus, als sei er in einen Tunnel vorgedrungen, der etwa so breit war wie dieser Kellerraum und der unter dem Garten neben dem Haus verlief und sich bis in den Hang des Hügels fortsetzte, auf dem sich die Post Road befand.
Er bewegte sich vorwärts. Die Tunnelwände waren glatt und konturlos grau; ebenso die Decke und der Fußboden. Es war keine feuchte unterirdische Kammer. Hier war es trocken, sauber und staubfrei — bis auf den Schmutz, den er mit seinem Brecheisen gemacht hatte.
Und es entstand Licht. Der Tunnel hellte sich auf, noch während Tom sich unschlüssig umschaute. Das Licht hatte keine fest umrissene Quelle, obgleich es vorwiegend von oben herabzustrahlen schien. Tom schaute nach unten, schaltete seine Taschenlampe aus und entdeckte, dass um seine Füße herum ein diffuser Schatten entstand.
Das Licht zog sich durch den Korridor, der an der Rückseite seines Kellers begann und in einer weiten Linkskurve sanft aufwärts führte. Dabei verlief er einige Meter weit parallel zur Post Road und schwenkte dann im Bereich des Highway nach Westen ab. Falls Tom sich nicht verschätzte, geschah das in einer Entfernung von rund einer Viertelmeile.
Tom blieb stehen und betrachtete diese Aussicht.
Seine erste Reaktion war ein ausgelassenes, nervöses Hochgefühl. Bei Gott, er hatte recht gehabt! Es gab tatsächlich hier unten etwas. Etwas Rätselhaftes, Seltsames, Großes, möglicherweise sogar Magisches. Etwas, von dem er noch nie in der Zeitung gelesen hatte, das er nicht aus dem Fernsehen kannte, von dem er noch nie durch einen Freund gehört hatte, das er nie erlebt oder zu erleben erwartet hatte. Etwas aus dem tiefen Brunnen von Mythos, Märchen und wilden Vermutungen.
Vielleicht lebten hier Oger. Vielleicht auch Engel.
Seine nächste Reaktion, fast genauso spontan, war ein heftiger Angstschauer. Wer immer diesen Ort geschaffen hatte — die Maschinenkäfer oder welche Macht sie auch lenken mochte —, musste ungemein stark sein. Es war eine mächtige Kraft, die sich lieber versteckt hielt. Eine mächtige Kraft, die er vielleicht mit seinem Brecheisen und seinem Hammer aufgestört hatte.
Er schob sich rückwärts durch das Loch in der Kellerwand aus dem Korridor hinaus — langsam und leise, obgleich ihm sein heimliches Vorgehen ziemlich lächerlich vorkam. Wenn er bis jetzt keine geheimnisvollen Wesen, wie immer sie aussehen mochten, aufgescheucht hatte, als er mit einem Brecheisen in ihre Behausung vorgedrungen war, welchen Sinn hatte es dann, jetzt noch die Luft anzuhalten? Aber er konnte sich nicht gegen den Impuls wehren, so leise wie möglich den Rückzug anzutreten.
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