»Wir sollten mal zusammen etwas spielen. Wenn Sie zurückkommen.«
»Gitarrenspieler gibt es hier sicherlich genauso viele wie Dichter.«
»Ungefähr wie Schneeflocken. Keiner gleicht dem anderen.« Sie lächelte. »Aber, ernsthaft, wenn Sie wieder mal hier vorbeikommen…«
»Vielen Dank.« Er sah auf seine Uhr und stand auf. »Sie waren sehr großzügig.«
»Nichts zu danken. Außerdem mag ich Sie.«
Er ergriff für einen kurzen Moment ihre Hand. Die Berührung war nur flüchtig, aber warm, und sie spürte ein kleines Vibrieren, ein Kitzeln — geheimnisvoll, unerwartet.
»Vielleicht bin ich bald wieder hier«, sagte er.
»Leben Sie wohl, Tom Winter.«
Er trat hinaus in den blassen Sonnenschein, verharrte für einen kurzen Moment in der Türöffnung, dann entfernte er sich mit unsicheren Schritten nach Osten.
Hoffentlich findest du, was du suchst, dachte sie. Ein Wunsch zum Abschied. Allerdings schien es nicht sehr wahrscheinlich.
Vermutlich, dachte sie, sehe ich dich nie wieder.
Sie trank ihren Kaffee und warf einen Blick in die Zeitung, aber es gab nur schlimme Neuigkeiten. Zwei Männer waren in einer Gasse nicht weit von ihrer Wohnung entfernt ermordet worden. Während sie geschlafen hatte, war der Tod in den Straßen unterwegs gewesen.
Es war ein beängstigender Gedanke, und sie sah auf, reckte den Hals, um Tom auf der Straße zu suchen. Aber er war bereits verschwunden, untergetaucht im morgendlichen Verkehr und unauffindbar.
Der Angestellte an der Rezeption blickte in das Gästebuch, während er ihr den Schlüssel reichte. »Zimmer 312, Mrs. Winter.«
Barbara erschrak. Hatte sie sich tatsächlich unter diesem Namen eingetragen? Sie nahm den Schlüssel entgegen und warf einen Blick auf die Seite, wo sie, ja, in sauberer Handschrift Mrs. Barbara Winter geschrieben hatte.
Das Motel war nicht mehr als eine dreistöckige Biwakhütte, die eine Autostunde von Belltower entfernt an einem tristen Highway-Abschnitt stand. Sie hatte eigentlich durchfahren wollen, aber Tonys Anruf hatte sie an diesem Nachmittag während einer Konferenz in Victoria, B. C, erreicht, und es war schon spät. Sie war müde, und ihr Wagen ebenso. Daher hatte sie bei leichtem Regen um halb elf vor dieser wenig einladenden Unterkunft angehalten und ihren Namen ins Gästebuch eingetragen.
Zimmer 312 roch nach trockener Wärme und Desinfektionsmitteln. Das Bett knarrte, und wenn man die Fensterläden öffnete, blickt man hinaus auf die verzerrte Spiegelung der Neonschrift — ZIMMER FREI — auf dem nassen Asphalt des Parkplatzes. Pkws und Trucks sausten in Gruppen von drei oder vier Fahrzeugen mit singenden Reifen vorbei.
Vielleicht ist es dumm, ihn zu besuchen.
Der Gedanke war nicht zu vermeiden. Er meldete sich immer wieder, seit sie sich in den Wagen gesetzt hatte und gestartet war. Er tauchte erneut in ihrem Bewusstsein auf, während sie aus ihren Jeans und ihrer Bluse schlüpfte und in die Duschkabine trat, um sich den Straßenstaub abzuwaschen.
Vielleicht war es wirklich dumm, ihn zu besuchen. Vielleicht war es auch sinnlos. Rafe hatte es ganz gut aufgenommen, ohne sein Missfallen allzu deutlich zu zeigen. Aber Rafe, dreiundzwanzig Jahre alt, betrachtete den Altersunterschied von sechs Jahren zwischen ihnen als eine tiefe Kluft und fühlte ihre Beziehung von ihrer dauerhaften Zuneigung zu Tom ständig bedroht. Sie war ihm entgegengekommen und hatte ihre Kontakte auf ein Minimum beschränkt… bis jetzt.
Es war dumm, ihre Beziehung zu Rafe aufs Spiel zu setzen. Es war die einzige Beziehung, die sie im Augenblick unterhielt, und wollte sie auf keinen Fall verlieren. Aber sie dachte auch daran, was Tony am Telefon gesagt hatte.
Diesmal kann ich nichts für ihn tun.
Die Worte waren wie ein kalter Windstoß durch ihr Bewusstsein gefahren.
»Bitte«, sagte sie laut. »Bitte, Tom, du dummer Kerl, bitte sei okay.«
Dann verkroch sie sich unter die kühlen Motelbettlaken und schlief bis zum Morgengrauen.
Am Morgen versuchte sie ihr Glück per Telefon. Aber er meldete sich nicht.
Zuerst geriet sie in Panik. Sie machte sich Vorwürfe, die Nacht hier verbracht zu haben. Sie hätte nicht mehr allzu weit fahren müssen. Sie hätte die Fahrt fortsetzen, hätte vor seiner Tür erscheinen und ihn retten können…
Wovor?
Nun, das war die Frage, nicht wahr? Die große, unbeantwortete Frage.
Sie bezahlte, verstaute ihr Gepäck im Kofferraum des Wagens und fädelte sich in den spärlichen Verkehr auf dem Highway ein.
Seit sie Tom verlassen hatte, hatte sie genau zweimal mit seinem Bruder Tony gesprochen. Bei beiden Gelegenheiten hatte er sie gebeten, Tom zu helfen.
Der erste Anruf war vor einigen Monaten erfolgt. Tom hatte zu trinken begonnen, seinen Job verloren, und er war die Miete für seine Wohnung schuldig geblieben. Wenn Barbara eher davon erfahren hätte, wäre sie vielleicht von sich aus gekommen, um zu helfen… aber als Tony sie anrief, hatte die Situation sich fast schon wieder beruhigt. Tony hatte seinem Bruder einen Job in Belltower besorgt, und Tom war mittlerweile trocken. »Ich glaube nicht, dass ich ihm irgendwie helfen könnte«, hatte sie gesagt.
»Du könntest zu ihm zurückkehren«, hatte Tony erwidert. »So sehr es mir auch widerstrebt, das auszusprechen. Ich glaube, das würde ihm helfen.«
»Tony, du weißt, dass ich das nicht tun kann.«
»Zur Hölle, warum nicht? Es geht schließlich um Tom.«
»Wir hatten Gründe für unsere Trennung. Ich lebe jetzt in einer anderen Beziehung.«
»Du haust mit irgendeinem halbwüchsigen Anarchisten zusammen. Ich hab schon davon gehört.«
»Diese Diskussion hilft uns nicht weiter, Tony.«
Und Tony entgegnete: »Du musst die schärfste Partie im ganzen Staat Washingtons sein, Barbara, denn ich wüsste nicht, weshalb mein Bruder sonst wegen dir so verzweifelt sein sollte«, und legte auf. Barbara hatte nicht damit gerechnet, danach noch einmal etwas von ihm zu hören. Nur nackte Verzweiflung würde ihn dazu treiben.
Und Verzweiflung war es vermutlich gewesen. Tonys zweiter Anruf — der von gestern — war zur Konferenz für Waldsterben und Umweltschutz in Victoria weitergeleitet und von einem der Mitglieder von World Watch, einer befreundeten Vereinigung, für die Barbara arbeitete, angenommen worden. Zuerst kam eine Warnung von Rachel, ihrer Mitstreiterin:
»Barb, kennst du diesen Burschen wirklich? Er sagt, er sei ein Verwandter deines Ex. Er wisse, dass du für diesen Spinnerverein tätig bist, und müsse dich auf der Stelle sprechen. Es gehe um eine Familienangelegenheit. Er sagte, es sei dringend, deshalb gab ich ihm deine Nummer im Hotel, aber ich frage mich…«
»Es ist schon okay«, antwortete Barbara. »Es ist alles in Ordnung, Rachel. Du hast es richtig gemacht.«
Sie wartete zehn Minuten neben dem Telefon, wodurch Rafe ohne sie an irgendeinem Seminar über Arbeitsplatzgestaltung oder den Sauerstoffhaushalt der Erde teilnehmen musste.
Dann wurde Tonys Anruf von der Zentrale durchgestellt.
»Es geht um Tom«, begann er.
Barbara spürte plötzlich einen Druck in ihrem Nacken. Es waren die Vorboten heftiger Kopfschmerzen. Sie sagte: »Tony… hatten wir dieses Thema nicht ausführlich besprochen?«
»Diesmal ist es etwas anders.«
»Was soll denn anders sein?«
»Hör mir einfach zu, Barbara, wärst du so nett? Spar dir deinen psychologischen Sermon, bis ich fertig bin, okay?«
Barbara biss sich auf die Unterlippe, sagte aber nichts. Trotz dieser verletzenden Bemerkung hörte sie etwas Drängendes, Bittendes in seiner Stimme. Das war bei Tony etwas Neues.
»Schon besser«, sagte er. »Danke schön. Diesmal scheint Tom ganz tief in Schwierigkeiten zu stecken. Und ich weiß nicht, was ich tun soll.«
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