Er brachte ein Lächeln zustande. Es scheint ihm schwerzufallen, dachte sie.
»Nein«, sagte er. »Eigentlich nicht. Ich habe es herausbekommen. New York City. Ich bin in New York. Aber das Datum…« Er hob die Hände in einer hilflosen Geste.
Oh, dachte Joyce. Aber er war kein Alkoholiker. Seine Augen waren hell und klar. Er hätte schizophren sein können, doch sein Gesicht strahlte nicht das gequälte Erstaunen aus, das sie in den Gesichtern der Schizophrenen gesehen hatte, denen sie bisher begegnet war. Davon hatte es eine ganze Reihe gegeben, darunter auch ihr Onkel Teddy, der in einem »Heim« auf dem Land lebte. Kein Alkoholiker, kein Schizo — vielleicht hatte er irgendetwas geschluckt. Im Village waren zur Zeit spezielle Tabletten im Umlauf. Dexadril war besonders beliebt, und LSD-25 war leicht zu bekommen: Ein Fremder von außerhalb, der sich im Remo etwas besorgt hatte, das war eine Möglichkeit. Aber kein richtiger Tourist. Der Mann trug Jeans und ein Baumwollhemd, das am Kragen offen war, und er trug die Sachen ganz selbstverständlich. Sie stellten keine besondere Kluft dar, die er sich zusammengesucht hatte, um sich für einen Nachmittag unters »Volk« zu mischen. Vielleicht ist er trotz allem einer von uns, dachte Joyce, und allein diese Möglichkeit brachte sie dazu, dass sie sich neben ihn setzte. Die Bank war feucht, und der Regen drang durch ihren Rock. Aber sie war bereits nass, seitdem sie den Bahnhof der IND in der West Fourth Street verlassen hatte. Es war nicht schlimm, an einem kalten Nachmittag kurz vor Einbruch der Dämmerung durchnässt zu sein, denn irgendwann fand man sicherlich ein gemütliches Plätzchen, um sich aufzuwärmen und zu trocknen, und dann war alles wieder in Ordnung. »Sie könnten vermutlich eine Tasse Kaffee vertragen.«
Der Mann nickte. »Das könnte ich.«
»Haben Sie Geld?«
Er klopfte auf seine linke Hüfte. Joyce hörte die Geldmünzen in seiner Hosentasche klimpern. Aber sein Gesicht nahm plötzlich einen skeptischen Ausdruck an. »Ich glaube nicht.«
»Wie fühlen Sie sich?« Ihre Stimme klang leise, prüfend.
Er sah sie wieder an. Nun war der ratlose Ausdruck in seinen Augen verschwunden — er begriff sehr wohl, worauf ihre Frage abzielte.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann mir denken, wie Ihnen das vorkommen muss. Ich kann es leider nicht erklären. Haben Sie jemals die Erfahrung gemacht, etwas zu erleben und es nicht begreifen zu können — etwas derartig Gigantisches, das über Ihren Verstand hinausgeht?«
LSD, dachte sie. Er ist auf dem Trip. Ein blutiger Anfänger im chemischen Wunderland. Sei nett zu ihm, sagte sie sich. »Ich glaube, nach einem Kaffee geht es Ihnen schon besser.«
Er sagte: »Ich habe Geld. Aber ich glaube nicht, dass es hier gültig ist.«
»Eine fremde Währung?«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Sind Sie auf Reisen?«
»Ich glaube, ja.« Er stand abrupt auf. »Sie brauchen mir keinen Kaffee zu spendieren, aber wenn Sie es doch tun, wäre ich Ihnen dankbar.«
»Ich heiße Joyce«, sagte sie. »Joyce Casella.«
»Tom Winter«, stellte er sich vor.
Es war Anfang Mai 1962.
Sie bestellte Kaffee in einem altmodischen Imbissrestaurant, in dem niemand sie kannte; nicht etwa, weil es ihr peinlich war, sondern weil sie nicht wollte, dass zu viele Menschen diesen Mann — Tom Winter — erschreckten. Er erschien verwirrt, benommen und schien nicht ganz auf der Höhe der Zeit zu sein, aber darunter erahnte sie etwas Seltsames, vielleicht das Motiv für die Reise, die ihn hierhergeführt hatte, oder irgendein Martyrium, ein glimmendes Feuer. Sie erzählte von ihrem Leben, dem Job in der Buchabteilung bei Macy’s, den sie verloren hatte, über ihre Musik, und entband ihn von der Notwendigkeit, Konversation zu machen. Gleichzeitig hatte sie ausgiebig Gelegenheit, ihn zu betrachten. Vor ihr saß ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, der Kleider trug, die betont lässig erschienen, aber nicht ärmlich und vernachlässigt wirkten, ein Reisender mit neugierigen Augen, der nicht abgemagert war, aber so hager wie jemand, der schon lange keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte.
Er wollte nicht über sich reden, wie er hierhergelangt war. Joyce respektierte das. Sie hatte viele Menschen kennengelernt, die nicht über sich selbst reden wollten. Menschen mit einer Vergangenheit, die sie verbergen wollten. Oder Menschen ohne Vergangenheit, Flüchtlinge aus den Vororten mit großartigen Visionen vom Village, das sie nur aus dem Fernsehen oder aus jenen selbstgerechten Artikeln von Time und Life kannten. Joyce hatte auch einmal zu ihnen gehört, Anfängerin an der NYU in einem Dirndlkleid, und sie respektierte Toms Schweigen, obgleich seine Geheimnisse weniger prosaisch sein mochten als ihre eigenen.
Er sagte ihr aber, woher er kam — aus einem kleinen Küstenort namens Belltower im Staat Washington. Sie fühlte sich durch diesen Anflug von Mitteilungsbereitschaft ermutigt, ihn zu fragen, was er dort getrieben habe.
»Eine ganze Menge Dinge«, sagte er. »Autos verkauft.«
»Ich kann Sie mir kaum als Autoverkäufer vorstellen.«
»Ich vermute, das haben andere Leute auch gedacht. Ich war nicht sehr gut in diesem Gewerbe.«
»Sie haben Ihren Job verloren?«
»Ich… nun, ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich ihn noch. Wenn ich zurückkehre.«
»Es ist ein weiter Weg zurück.«
Er lächelte ein wenig. »Es war auch ein weiter Weg hierher.«
»Was hat Sie denn in die Stadt geführt?«
»Eine Zeitmaschine«, sagte er. »Offensichtlich.«
Er war per Anhalter gekommen oder auf einen Güterzug aufgesprungen, vermutete Joyce, nach Woody-Guthrie-Manier. Das war es wahrscheinlich, was er meinte. »Also«, sagte sie, »Mister Autoverkäufer, wollen Sie etwas länger hierbleiben?«
Er schüttelte den Kopf, nein, dann schien er sich zu besinnen. »Ich weiß es nicht genau. Meine Reisepläne sind ein wenig vage.«
»Suchen Sie eine Bleibe?«
Er schaute durch die Fensterscheibe des Imbissrestaurants. GARANTIERT KOSCHER stand darauf. Die Schrift glich dem Schild im Peace-Eye-Buchladen drüben an der Kreuzung Tenth Street und Avenue C. Es war schon Abend. Der Verkehr quälte sich durch die glänzende, nasse Dunkelheit.
»Ich habe eine Bleibe«, sagte er, »aber ich weiß nicht, ob ich dorthin zurückfinde.«
Joyce ahnte irgendwie, dass es ihm damit ernst war. Wenn er von seinem LSD-Trip herunterkam, würde er wahrscheinlich wie eine Flipperkugel durch Manhattan irren. Joyce fragte sich, ob sie von seiner Harmlosigkeit wirklich überzeugt war. Sie bejahte die Frage entschlossen. Einfach einen Fremden mitzunehmen, schalt sie sich — aber es war eine dieser Taten, die Lawrence in einem Gedicht »Schicksalsbegegnungen« genannt hatte. Es war das Glück eines unerwarteten Zusammentreffens. Wie die Berührung mit einem Zauberstab. »Sie können bei mir auf dem Sofa schlafen, wenn Sie wollen. Es ist nicht besonders luxuriös.«
Das Angebot schien bei ihm Erschöpfung auszulösen. »Ich wäre glücklich, wenn ich auf Ihrem Sofa schlafen dürfte. Es ist sicherlich sehr bequem.«
»Zu viel der Ehre«, sagte sie. »Ich habe es von der Heilsarmee. Es ist dunkelviolett, ein hässliches Sofa, Tom.«
»Dann mache ich beim Schlafen die Augen zu«, versprach er.
Sie wohnte in einem kleinen Apartment im East Village direkt an einer Eisenbahnstrecke. Sie war aus einem Studentenheim der NYU dorthin gezogen. Es befand sich im zweiten Stock eines Mietshauses und war äußerst sparsam eingerichtet: das hässliche violette Sofa, ein paar Klappstühle, eine Stehlampe aus der progressiven Epoche. Die Bücherregale bestanden aus rohen Kiefernbrettern und Ziegelsteinen.
Tom betrachtete die Bücher. Es war nichts Besonderes dabei. Ihre Englischtexte vom College sowie ein paar andere Exemplare, die sie in den Antiquariaten gefunden hatte. Einige Werke von C. Wright Mills, Frantz Fanons Die Verdammten der Erde, Aldous Huxley — aber er berührte sie so vorsichtig, als seien es wertvolle Exponate in einer Glasvitrine.
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