»Welcher Art waren denn die Magazine?«
»Alle, von Time bis zum Manchester Guardian. Mit Schwergewicht auf dem aktuellen politischen Geschehen, aber nicht nur.«
Tom überlegte. »Es klingt ziemlich exzentrisch, aber…«
»Nein, das war nicht nur exzentrisch. Es gab ein Muster. Es war nichts Zufälliges, eher eine Art lineare Gleichung.« Tom hob skeptisch die Augenbrauen. Archer fügte hinzu: »Mathematik ist mein anderes Hobby. Den Mathematikunterricht an der Highschool habe ich niemals versäumt. Sie erinnern sich noch an Mr. Foster? Einen ziemlich großen Mann mit grauen Haaren? Er sagte, ich hätte eine Begabung dafür. Ich lese zum Beispiel regelmäßig die Rätselecke im Scientific American.«
Douglas Archer, Rechtsgelehrter und Mathematiker. Man sollte ihn nicht unterschätzen. » Das ist aber nicht viel an Hinweisen.«
»Es ist praktisch nichts. Überhaupt nichts. Sondern allenfalls interessant.« Archer schob den Teller beiseite und stand auf. »Nun, wie dem auch sei. Lassen Sie die Geräte in Ruhe, sie schalten sich selbst ein. Aber morgen früh möchten Sie sich bestimmt das Band ansehen.«
»Darauf können Sie sich verlassen. Wollen Sie nicht noch eine Tasse Kaffee trinken?«
»Ich bin fürs Kino verabredet, für die Spätvorstellung. Aber erzählen Sie mir, was zu sehen war.« Er grinste schelmisch. »Oder was nicht zu sehen war.«
Archer schloss die Tür hinter sich, und plötzlich wirkte das Haus hohl und leer.
An diesem Abend machte Tom die beunruhigende Entdeckung, dass er Angst hatte einzuschlafen.
Er duschte und schlüpfte in einen Bademantel und schaltete die Tonight-Show ein. Das Geplapper war langweilig, aber er ließ den Fernseher laufen, um den Klang menschlicher Stimmen zu hören. Genau deshalb besitzen wir alle diese Kästen, dachte er, weil sie mit uns reden, wenn niemand sonst zu Hause ist.
Aber vielleicht war der Begriff »Angst« in diesem Zusammenhang etwas übertrieben. Es war ja nicht so, dass er geradezu zitterte. Eher hatte er Hemmungen, die Augen zu schließen, wenn gerade die verrücktesten Dinge passierten. Er hatte für sich entschieden, dass hier irgendetwas vor sich ging, irgendein unterirdisches Geschehen ablief. Vielleicht war es sogar etwas, das — falls Archers historischer Überblick den Tatsachen entsprach — schon seit hundert oder noch mehr Jahren an diesem Ort stattfand. Es konnte etwas Insektenartiges sein, etwas, das im Erdboden lebte, das Löcher und geheime Verstecke bevorzugte. Er entwickelte ein Gespür, ein Bewusstsein für diese Erscheinungen, das erschreckend genau war. Die Augen, die ihn in seinen Träumen musterten, waren die Augen von… nicht von Maschinen, darin irrte Archer sich. Eher die von etwas in seiner Zielgerichtetheit Mechanischem. Es waren die Augen eines Baumeisters, eines Konstrukteurs. Aber was genau schufen diese Erscheinungen?
Nichts Gefährliches. Dessen war Tom sich einigermaßen sicher. Die Insekten in seinen Träumen waren nicht feindselig und nicht tödlich. Aber sie waren grundsätzlich und vollkommen anders, rätselhaft. Ihm war, als hätte er in einen schwarzen Tümpel gegriffen und irgendetwas berührt, das darin lebte. Einen vielfarbigen, vielgliedrigen Polypen, der so völlig anders war als er selbst, dass er durchaus von einem anderen Stern stammen konnte.
Und dann war da natürlich noch Archers Videoanlage, fast genauso fremdartig, die vor sich hinsummte. Sie hatte bislang kein Ereignis aufgezeichnet und würde es wohl auch nicht. Es war auch möglich — und dieser Gedanke beunruhigte ihn —, dass er aufwachte und die Kamera in ihre Einzelteile zerlegt vorfand, die nützlichen Teile entfernt, das Gehäuse offen und ausgeweidet auf dem Teppich.
Er raffte sich auf, zu Bett zu gehen, ehe der Nachspann der Tonight-Show ablief. Lange lag er in der Dunkelheit da und bildete sich ein, die Kamera im Zimmer nebenan schnurren zu hören. Aber das war doch wohl unmöglich, oder? Es war das Sirren und Summen seiner eigenen Nerven. Seines eigenen Bluts, das durch seine Ohren pulsierte. Er konnte nicht aufhören, diese Fragen in seinem Geist immer wieder neu zu stellen, die Fragen nach den Maschinen und der Intelligenz dahinter und dem Laut, der durchaus ein matter Hilfeschrei hätte sein können. Aber nach einiger Zeit zerstreuten seine Gedanken sich, und er schlief ein.
Eine zweite Nacht lang schlief Tom Winter völlig traumlos. Er erwachte vom Lärm des Uhrenradios, das auf einen Mittelwellensender in Seattle eingestellt war, der gerade Wettervorhersagen und Verkehrsmeldungen durch den Äther schickte. Sonnenstrahlen drangen matt durch die Vorhänge, aber er fühlte sich, als sei er gerade erst zu Bett gegangen. Nichts aus dieser Nacht war in seiner Erinnerung haften geblieben — außer, ganz vage nur, der Nachhall eines ständigen Summens. Es war ein Geräusch, wie ein im Erdreich vergrabener Dynamo es von sich geben mochte.
Das Geräusch seiner Gedanken.
Möglicherweise auch das Geräusch ihrer Gedanken.
Aber diese Vorstellung verdrängte er schnell wieder. Die Küche war auch diesmal sauber.
Dieser Trick war nun, da er ihn nicht mehr beeindruckte, ein vertrautes Phänomen. Es waren eher die kleinen Details, die ihn faszinierten. Zum Beispiel war jedes winzige Partikel organischer Materie von der Pizzaverpackung entfernt worden, doch der Karton selbst stand immer noch aufgeklappt mitten auf dem Tisch. Es waren Entscheidungen getroffen worden: Das ist Abfall und das nicht. Es waren keine einfachen mechanischen Entscheidungen. Die Lebensmittel im Kühlschrank wurden niemals angerührt. Ungeöffnete Pakete waren ebenfalls ausgenommen. Dahinter steckte eine Logik. Ziemlich simpel und sich ständig wiederholend, aber gleichzeitig kompliziert und merkwürdig. Eine Hausangestellte hätte den leeren Karton weggeräumt. Ein Roboter tat das nicht. Aber einen Roboter würde es auch nicht stören, wenn er bei der Tätigkeit überrascht würde; ein Roboter würde nicht bis zu den frühen Morgenstunden warten.
Der Videorekorder lief noch. Es dauerte noch einige Minuten bis acht Uhr. Tom beugte sich vor, griff an der Kameraoptik vorbei und schaltete das Gerät ab.
Er holte die Kassette heraus und stellte fest, dass seine Hand zitterte. Er brauchte ganze fünfzehn Minuten, um den Videorekorder an seinen Fernseher anzuschließen… und eine weitere Minute, um das Band zurückzuspulen.
Er schaltete den Fernseher ein, und als der Schirm sich erhellte, betätigte er die Playtaste des Rekorders. Ein Bild entstand und stabilisierte sich — die Küche, die durch die statischen Kameraposition fremd und steril wirkte. Die Zahlen am oberen Bildschirm gaben die Uhrzeit an, 12:01, 12:02 — er war um diese Zeit immer noch wach gewesen, und als er den Ton etwas lauter drehte, konnte er im Hintergrund die Johnny-Carson-Show hören. Irgendwo hinter dem Bild auf dem Schirm saß er in seinem Bademantel und verfolgte die Tonight-Show. Es entstand eine Art Zeitschleife — aber darüber wussten sie sicherlich genau Bescheid.
Das war ein weiterer phantomhafter Gedanke, unerwünscht und absonderlich. Er schüttelte ihn ab.
Er drückte auf die Taste für den schnellen Vorlauf.
Ein Balken wanderte von unten nach oben über den Schirm; das Bild flackerte. Die Minuten huschten so schnell vorbei, dass die Anzeige kaum lesbar war. Aber es war noch immer die gleiche, unaufgeräumte Küche, die er am Abend vorher zurückgelassen hatte.
1:00 Uhr nachts flackerte vorbei.
2:00 Uhr.
3:00 Uhr. Nichts passierte. Dann…
3:45 Uhr.
Er drückte auf die Pausetaste, zu spät, und ließ das Band zurücklaufen.
3:40:01.
3:39:10.
3:38:27.
Um genau 3:37:16 Uhr morgens war das Licht in der Küche erloschen.
»Verdammt noch mal!«, sagte Tom.
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