Doch das Haus war dunkel.
»Stell den Motor ab«, sagte Tom. »Wir müssen Zeit gewinnen. Lass ihn rollen — ohne Licht.«
Guilford nickte und drehte den Zündschlüssel. Der Ford glitt durch die samtschwarze Nacht, lautlos bis auf das Knirschen des Kies. Der Wagen rollte aus und stand.
Die Haustüre flog auf, ein flackerndes Licht: Abby stand auf der Schwelle, in der Hand eine Kerze.
Guilford sprang aus dem Wagen und drängte sie ins Haus zurück. Lily und der Grenzer folgten.
»Das Licht geht nicht«, sagte Abby eben. »Auch das Telephon nicht. Was ist los? Warum sind wir hier?«
»Abby, ich habe nicht angerufen. Das war irgendein Trick.«
»Ich habe doch mit dir geredet!«
»Nein«, sagte er. »Hast du nicht.«
Abby nahm die Hand vor den Mund. Hinter ihr auf dem Sofa saß Nick, verschlafen und durcheinander.
»Vorhänge zuziehen«, sagte Tom. »Alle Türen und Fenster verriegeln.«
»Guilford…?«, sagte Abby, die Augen geweitet.
»Es hat sich ein Problem ergeben, Abby.«
»Oh nein… Guilford, er hörte sich an wie du, es war deine Stimme…«
»Keine Bange. Wir müssen nur eine Zeit lang in Deckung gehen. Nick, du rührst dich nicht von der Stelle.«
Nicholas nickte feierlich.
»Nimm dein Gewehr, Guilford«, sagte der Grenzer. »Mrs. Law, haben Sie noch mehr von diesen Kerzen?«
»In der Küche«, sagte sie wie betäubt.
»Gut. Lily, mach den Seesack auf.«
Guilford erhaschte einen Blick auf Munition, ein Fernglas und ein Jagdmesser mit Lederscheide.
Abby sagte: »Können wir nicht einfach — wegfahren?«
»Jetzt, wo wir hier sind«, erwiderte der Grenzer, »werden sie uns nicht wieder fortlassen, Mrs. Law. Aber wir sind mehr, als sie erwartet haben, und wir sind besser bewaffnet. Die Chancen stehen nicht schlecht. Morgen früh sehen wir weiter.«
Abby erstarrte. »O Gott… es tut mir so Leid!«
»Nicht Ihre Schuld.«
Aber meine, dachte Guilford.
* * *
Abby lenkte sich ab, indem sie sich Nick widmete: ihn beruhigte, ihm auf dem Sofa ein richtiges Bett machte. Guilford hatte das Sofa von der Tür weg und mit dem Rücken zum Zimmer in eine Ecke geschoben. »Ein Fort«, sagte Nick dazu. »Ein schönes Fort«, ergänzte Abby.
Sie zog die Luft durch die zusammengebissenen Zähne und zählte die Stunden bis zum Morgen. Draußen sind Leute, die uns etwas antun wollen, und sie haben den Strom gekappt und die Telefonleitung. Wir können nicht aus dem Haus und wir können niemanden um Hilfe bitten und wir können uns nicht zur Wehr setzen…
Guilford nahm sie beiseite zusammen mit der jungen Frau, die Tom Compton mit ins Haus gebracht hatte. So ungerne Guilford über seine Vergangenheit sprach, wusste Abby doch von seiner Tochter, die er vor fünfundzwanzig Jahren in London zurückgelassen hatte. Abby erkannte sie, noch ehe Guilford sagte: »Das ist Lily.« Ja, es war nicht zu übersehen. Lily hatte die Law-Augen, wintermorgenblau, und dieselben steilen Fältchen zwischen den Brauen.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Abby und wusste sofort, wie sich das anhören musste. »Ich meine, ich wünschte… nicht unter diesen Umständen.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Lily ernst. »Danke, Mrs. Law.«
Und Abby dachte: Was weißt du über die Alten Männer? Wer hat dich in ihre Geheimnisse eingeweiht? Wie viel weiß Guilford? Wer lauert da draußen in der Finsternis und will meinen Mann, mein Kind töten?
Jetzt war nicht die Zeit dazu. Solche Dinge waren Luxus geworden: Angst, Zorn, Grübelei und Kummer.
* * *
Guilford deckte Nicholas zu. Der Junge besah sich das Gesicht seines Vaters.
Im Kerzenlicht sah alles so fremd aus. Das Haus schien größer — leerer —, als hätte es sich da, wo es dunkel war, ausgedehnt. Türen und Fenster waren verriegelt. Nick spürte, dass sie in Gefahr waren. »Banditen«, hatte er Tom Compton sagen hören. Was Nick an die Filme denken ließ. Landbesetzer, Wollschlangendiebe, stämmige Burschen mit dunklen Augenringen. Killertypen.
»Schlaf, wenn du kannst«, sagte sein Vater. »Morgen früh kommt alles wieder in Ordnung.«
Der Schlaf lag in weiter Ferne. Nick blickte in das Gesicht seines Vaters und hatte plötzlich das Gefühl, ihn zu verlieren. Es war wie ein Dolchstoß.
»Gute Nacht, Nick«, sagte sein Vater und strich ihm übers Haar.
Für Nicholas klang es wie »Lebewohl«.
* * *
Lily übernahm die Küche.
Das Haus hatte zwei Zugänge, die Haustür im Wohnzimmer und den Hintereingang in der Küche. Die Küche war sicherer, es gab nur ein einziges, kleines Fenster und die Tür war schmal. Die Tür war verriegelt. Das Fenster war auch verriegelt, doch Lily war klar, dass weder Tür noch Fenster einem wild entschlossenen Feind standhalten würden.
Sie saß auf einem Holzstuhl, Guilfords alte Remington quer über dem Schoß. Weil der Raum dunkel war, hatte Lily den Rolladen einen Spaltweit aufgezogen und war mit dem Stuhl näher ans Fenster gerückt. Die Nacht war mondlos, nur ein paar helle Sterne standen am Himmel, aber da waren die Lichter der Frachtschiffe, die in der Bucht lagen, ein Sternbild von Menschenhand.
Das Gewehr war beruhigend. Auch wenn sie noch nie etwas Größeres als ein Kaninchen geschossen hatte.
Willkommen in Fayetteville, dachte Lily. Willkommen in Darwinia.
Ihr ganzes Leben lang hatte Lily über Darwinia gelesen und von Darwinia geredet — von Darwinia geträumt bei Nacht und bei Tag — zum Leidwesen ihrer Mutter. Sie fand ihn faszinierend, den Kontinent. Von Kindesbeinen an hatte sie sein Geheimnis ergründen wollen. Und hier war sie nun: allein im Dunkel, um sich gegen Dämonen zu verteidigen.
Weißt du überhaupt, worauf du dich da einlässt, Mädchen?
Sie wusste praktisch alles, was die Naturwissenschaft über Darwinia herausgefunden hatte, und das war ziemlich wenig. Eine Fülle von Einzelheiten freilich und auch ein bisschen Theorie. Doch die große, zentrale Frage, das schlichte, menschliche, brennende Warum, war bisher unbeantwortet geblieben. Interessant allerdings, dass zumindest noch ein anderer Planet des Sonnensystems von diesem Phänomen betroffen schien. Sowohl das Royal Observatory in Capetown als auch das National in Bloemfontein hatten Photographien des Mars veröffentlicht, auf denen jahreszeitliche Veränderungen und Hinweise auf große Wassermassen zu sehen waren. Eine neue Welt am Himmel, ein Darwinia von planetarem Ausmaß.
Die Briefe ihres Vaters hatten Licht in das Dunkel gebracht, obwohl er selbst kaum durchzublicken schien. Guilford und Tom und alle die Alten Männer hatten getan, was Guilfords Freund Sullivan nicht gekonnt hatte: nämlich das Wunder in profanen Kategorien zu erklären. Es war eine exotische Hypothese, sicher, und ihr fiel kein Experiment ein, das sie hätte erhärten können. Aber diese ganze abwegige Theographie mit ihren Archiven und Engeln und Dämonen war an so vielen Orten entstanden und stimmte in so vielen Details überein, dass sie nur auf Tatsachen beruhen konnte.
Anfangs war sie skeptisch gewesen — hatte Guilfords Notizen und Briefe als die Wahnvorstellungen eines halb verhungerten Überlebenden abgetan. Jeffersonville hatte ihre Meinung geändert. Tom Compton hatte ihre Meinung geändert. Die Alten Männer hatten sie ins Vertrauen gezogen, und das hatte nicht bloß Lilys Meinung geändert, es hatte sie auch davon überzeugt, dass es sinnlos war, darüber zu schreiben. Man würde es nicht zulassen und selbst wenn es ihr gelang, man würde ihr nicht glauben. Weil da natürlich gar keine Ruinenstadt in den Alpen war. Diese Stadt war nirgends verzeichnet, nie photographiert oder überflogen oder von weitem gesichtet worden — nur die verschollene Finch-Expedition wollte mitten in dieser Stadt gewesen sein. Die Dämonen, meinte Tom, hätten sie vernäht — wie man einen zerrissenen Ärmel näht. Sie verstünden sich auf so was.
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