Die ewigen Rätsel und schwierigen Aufgaben werden im Nu gelöst sein, wenn es gelingt, die größte wissenschaftliche Revolution zu vollbringen — endgültig die Zeit auszuschalten und zu lernen, jede Entfernung in jedem beliebigen Zeitraum zurückzulegen. Dann werden nicht nur die Sterne unserer Galaxis, sondern auch die entferntesten Sterneninseln von uns nicht weiter entfernt sein als die kleinen Inseln des Mittelmeeres. Darin lag die Rechtfertigung für den tollkühnen Versuch, den Ren Boos ersonnen hatte und den er, Mwen Mass, der Leiter der Außenstationen der Erde, verwirklichen sollte. Wenn sie doch die Durchführung des Versuchs besser begründen könnten, um die Erlaubnis des Rates zu erhalten!
Die Lichter der Spiralstraße wechselten ihre Farbe von Orange in Weiß: zwei Uhr nachts, die Zeit der Transportverstärkung. Mwen Mass erinnerte sich, daß morgen das Fest der Flammenschalen war, zu dem ihn Tschara Nandi eingeladen hatte. Der Leiter der Außenstationen konnte das bronzefarbene Mädchen mit den geschmeidigen Bewegungen nicht vergessen.
Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, rief das „Institut für Metagalaxis“ an, das stets nachts arbeitete, und bat, ihm für die nächste Nacht die Stereofilme einiger Galaxien zu schicken. Dann stieg er aufs Dach, wo sein Weitsprunggerät stand. Mwen Mass liebte diesen Sport und hatte es darin zu großer Meisterschaft gebracht. Er schnallte sich die Gurte des Geräts um und schwang sich mit einem federnden Sprung in die Luft, wobei er für einen Augenblick den Propeller einschaltete, der von einem leichten Akku betrieben wurde. Mwen Mass beschrieb in der Luft einen Bogen von ungefähr 600 Meter Länge und landete auf einem Vorbau des „Hauses für Ernährung“. Mit weiteren fünf Sprüngen gelangte er zu einem kleinen Garten unter der Steilwand eines Kreideberges, schnallte das Gerät ab und legte sich auf sein Bett, das unter einer riesigen Platane stand. Bald darauf sank er in tiefen Schlaf.
Das Fest der Flammenschalen war nach einem bekannten Gedicht des Historikers und Dichters San Sen benannt worden. Es erzählte von der altindischen Sitte, nach der den Helden, die zu großen Taten auszogen, Schlachtschwerter und Schalen mit brennendem aromatischem Harz von den schönsten Frauen überreicht wurden. Die Schwerter gab es längst nicht mehr, sie galten jedoch noch als Symbol der Heldentat.
Das Fest der Flammenschalen war zum Frühlingsfest der Frauen geworden. Jedes Jahr, im vierten Monat nach der Wintersonnenwende — nach dem alten Kalender im April —, führten die anmutigsten Frauen der Erde Tänze und Gymnastikübungen vor. Die feinen Nuancen der Schönheit der verschiedenen Rassen, die in der Mischbevölkerung des Planeten zum Ausdruck kamen, strahlten hier in unerschöpflicher Vielfalt und waren für die Zuschauer ein erfreulicher Anblick.
Nicht weniger schön war das Fest des Herkules für die Männer, das im neunten Monat nach Wintersonnenwende gefeiert wurde. Ursprünglich legten die Jungen, die die Reife erlangt hatten, dann Rechenschaft über ihre Herkulestaten ab. Später veranstaltete man in diesen Tagen eine Volksschau hervorragender Leistungen des letzten Jahres. Daraus wurde schließlich ein Fest für Männer und Frauen, aufgeteilt in die Tage der Nützlichkeit, der höheren Kunst und der wissenschaftlichen Kühnheit und Phantasie. Auch Mwen Mass war einmal Held des ersten und des dritten Tages gewesen.
Als Mwen Mass im Sonnensaal des Tyrrhenischen Stadions eintraf, trug Weda Kong gerade einige Lieder vor. Bald fand er den neunten Sektor des vierten Radius, wo Ewda Nal und Tschara Nandi saßen. Er stellte sich in den Schatten des Bogenganges und lauschte Wedas Stimme. Ganz in Weiß, das Gesicht den oberen Galerien zugewandt, sang sie ein Lied an die Freude und erschien dabei Mwen Mass wie die Verkörperung des Frühlings.
Am Schluß der Darbietung drückte jeder der Zuschauer auf einen der vor ihm angebrachten vier Knöpfe. An der Decke des Saales flammten goldene, blaue, grüne oder rote Lichter auf und zeigten den Grad des Beifalls für den Künstler an. So wurde das lärmende Klatschen früherer Zeiten vermieden.
Ein Gefunkel von goldenen und blauen Lichtern, zwischen denen sich einige grüne verloren, zeichnete Weda aus. Glühend vor Erregung trat sie zu ihren Freundinnen. Da kam auch Mwen Mass näher und wurde freundlich begrüßt.
Der junge Mann schaute sich um; er suchte seinen Lehrer und Vorgänger, doch Dar Weter war nirgends zu sehen.
„Wo haben Sie Dar Weter versteckt?“ wandte sich Mwen Mass scherzhaft an die drei Freundinnen.
„Und wo haben Sie Ren Boos gelassen?“ antwortete Ewda Nal mit einer Gegenfrage. Mwen Mass wich ihrem durchdringenden Blick aus.
„Weter gräbt unter Südamerika herum, er gewinnt Titan“, sagte Weda Kong; in ihrem Gesicht zuckte es leicht.
Tschara Nandi legte wie schützend einen Arm um die hübsche Historikerin.
Dann warf sie einen Blick auf die Uhr in der Kuppel des Saales und erhob sich.
Die Kleidung Tscharas verblüffte Mwen Mass. Auf den braunen Schultern des Mädchens lag eine Platinkette, die den Hals frei ließ. Der Anhänger war ein leuchtend roter Turmalin.
Die feste Brust war fast unbedeckt. Von dem Anhänger bis zum Gürtel zog sich ein Streifen dunkelvioletten Stoffs. Ebensolche Streifen verliefen mitten über jede Brust. Der Rücken war tief ausgeschnitten. Die schmale Taille umgab ein weißer Gürtel mit schwarzen Sternen und einer Platinschnalle in Halbmondform. Auf dem Rücken war an dem Gürtel ein langer Überwurf aus schwerer weißer Seide befestigt, der ebenfalls mit schwarzen Sternen verziert war. Bis auf die Kette und die blitzenden Schnallen an den schwarzen Schuhen trug die Tänzerin keinen Schmuck.
„Gleich bin ich an der Reihe“, sagte Tschara ruhig und ging zum Durchgang. Sie warf noch einen Blick auf Mwen Mass und verschwand, von tausend Blicken begleitet.
Auf der Bühne erschien eine Turnerin, ein anmutiges junges Mädchen von höchstens achtzehn Jahren. Von goldenem Licht überflutet, vollführte sie eine wirbelnde Kaskade von Sprüngen, Drehungen und Radschlägen, wobei sie beim Rhythmuswechsel der Musik in ausgefeiltem Gleichgewicht verharrte. Die Zuschauer billigten die Darbietungen durch eine Unzahl goldener Lichter, und Mwen Mass überlegte, daß es für Tschara Nandi nicht leicht war, gleich nach der erfolgreichen Turnerin aufzutreten. Ein wenig beunruhigt ließ er seine Blicke durch den gefüllten Saal schweifen und bemerkte plötzlich im dritten Sektor den Künstler Kart San. Der begrüßte ihn mit fröhlichem Kopfnicken.
Dann erlosch das Licht. Der durchsichtige Boden aus organischem Glas erstrahlte in Karmesinrot. Von der Rampe ergoß sich purpurnes Licht, flutete hin und her im Einklang mit dem Rhythmus der Musik, den hellen Tönen der Geigen und dem tiefen Klang der Baßsaiten. Von der Dynamik und dem Tempo der Musik ein wenig benommen, bemerkte Mwen Mass nicht sofort, daß in der Mitte der Bühne Tschara stand.
Sie begann den Tanz mit einer solchen Schnelligkeit, daß die Zuschauer den Atem anhielten. Nicht nur Beine und Arme bewegten sich, der ganze Körper des Mädchens schien von der feurigen Musik erfaßt. In den Lichtreflexen der Bühne nahm Tscharas rötliche Hauttönung eine kupferne Schattierung an. Mwen Mass’ Herz schlug schneller. Diese Hautfarbe erinnerte ihn an die Menschen auf dem märchenhaften Planeten des Epsilon Tucanae. Damals hatte er erfahren, daß es eine Vergeistigung des Körpers gibt, der durch Bewegungen die feinsten Nuancen des Gefühls und der Phantasie, der Leidenschaft und der Suche nach Glück zum Ausdruck bringen kann.
Mwen Mass erkannte, daß bei der irdischen Menschheit ebenfalls vielfältige Formen, reich an Schönheit, existieren, die den in seinem Innersten bewahrten Erscheinungen auf dem fernen Planeten glichen. Doch sein Traum konnte nicht so einfach ausgelöscht werden. Tschara, die das Antlitz der rothäutigen Tochter des Planeten des Epsilonsterns annahm, bestärkte den Leiter der Außenstationen in seinem früheren Entschluß.
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