Ewda Nal und Weda Kong, beide selbst ausgezeichnete Tänzerinnen, sahen zum erstenmal Tschara tanzen und waren begeistert. Weda, in der die Anthropologin und Historikerin erwacht war, stellte die These auf, in ferner Vergangenheit habe es in Gondwana, in den südlichen Ländern, stets mehr Frauen gegeben als Männer. Im Kampf mit den vielen Raubtieren wurden die Männer dezimiert. Später, als sich in diesen Ländern die altorientalischen Despotien herausbildeten, fanden viele der Männer den Tod in grausamen Kriegen, deren Ursache oft religiöser Fanatismus oder die Laune eines Gewaltherrschers war. Die Töchter des Südens führten ein schweres Leben, wodurch sie immer größere Vollkommenheit erreichten. Der Norden mit seiner geringen Bevölkerung und seiner kargen Natur kannte den Despotismus des Dunklen Zeitalters nicht. Dort blieben mehr Männer am Leben, war die Frau geachteter und geschätzter.
Weda verfolgte jede Geste Tscharas und stellte in den Bewegungen eine erstaunliche Zwiespältigkeit fest: Sanftheit und Gier zugleich. Sanft waren die gleitenden Bewegungen und die Biegsamkeit ihres Körpers, die Gier hingegen drückte sich in den schroffen Übergängen aus, in den Wendungen, die mit raubtierhafter Schnelligkeit erfolgten. Das war die Geschmeidigkeit, die die dunkelhäutigen Töchter Gondwanas in ihrem Jahrtausende währenden Existenzkampf erworben hatten. Wie gut paßte sie zu Tscharas feinen, aber markanten kretisch-griechischen Gesichtszügen!
Die Wellen des roten Lichts überfluteten Tscharas kupferfarbenen Körper, verloren sich in den dunklen Falten des glänzenden Stoffes, färbten die weiße Seide rosa.
Plötzlich, ohne jedes Finale, brachen die stürmischen Klänge ab, erlosch das rote Licht. An der hohen Kuppel des Saals flammte die Beleuchtung auf. Das ermattete Mädchen neigte den Kopf, ihr dichtes Haar fiel über ihr Gesicht. Den Tausenden goldenen Lichtern folgte ein dumpfer Lärm: Die Besucher erwiesen Tschara die höchste Ehre — sie dankten ihr, indem sie sich erhoben und die gefalteten Hände zur Bühne streckten. Tschara wurde verwirrt, strich die Haare zurück und lief, den Blick auf die oberen Galerien gerichtet, von der Bühne.
Die Festordner gaben eine Pause bekannt. Mwen Mass versuchte, Tschara in der Menge zu finden. Weda Kong und Ewda Nal indessen traten auf die riesige, einen Kilometer breite Freitreppe aus taubenblauem Glas hinaus, die vom Stadion direkt ins Meer führte. Der klare und kühle Abend lockte die beiden Frauen zum Baden.
„Nicht umsonst ist mir Tschara Nandi sogleich aufgefallen“, begann Ewda Nal. „Sie ist eine hervorragende Künstlerin. Heute hat sie uns einen Tanz der Lebenskraft gezeigt. Genau das scheint mir Ausdruck für den Eros der Alten zu sein.“
„Jetzt verstehe ich die Worte Kart Sans, daß die Schönheit wichtiger sei, als wir glaubten. Er hat das damals gut formuliert: ›Sie ist das Glück und der Sinn des Lebens!‹ Auch Ihre Formulierung ist zutreffend“, sagte Weda zustimmend. Sie zog die Schuhe aus und tauchte die Füße in das laue Wasser, das an die unteren Stufen klatschte.
Ewda Nal warf die Kleider ab und stürzte sich in die Wellen. Weda hatte sie bald eingeholt, und beide schwammen der großen Insel zu, die anderthalb Kilometer von der Uferstraße des Stadions entfernt glitzerte. Die flache, nur wenig über den Wasserspiegel ragende Insel säumten mehrere Reihen von muschelförmigen Gebilden aus perlmuttfarbenem Kunststoff, groß genug, drei oder vier Personen vor Sonne und Wind zu schützen und gegen die Nachbarn abzuschirmen.
Die beiden Frauen legten sich auf den weichen, federnden Boden einer solchen Muschel und genossen den frischen Geruch des Meeres.
„Sie sind schön braun geworden, seit wir uns das letztemal getroffen haben“, sagte Weda zu der Freundin. „Waren Sie viel am Strand, oder haben Sie Pigmenttabletten eingenommen?“
„Tabletten“, bekannte Ewda. „Ich habe nur gestern und heute in der Sonne gelegen.“
„Wissen Sie wirklich nicht, wo Ren Boos ist?“ fragte Weda.
„Ich ahne es, und das genügt, um beunruhigt zu sein“, antwortete Ewda Nal leise.
„Wollen Sie etwa…“ Weda verstummte, ohne ihren Gedanken auszusprechen. Doch Ewda schaute sie mit offenem Blick an.
„Für mich ist Ren Boos ein… hilfloser, noch unreifer Junge“, fuhr Weda zögernd fort. „Sie dagegen sind so zielsicher und willensstark.“
„Dasselbe hat mir auch Ren Boos gesagt, aber Sie haben genausowenig recht wie Ren. Er ist ein Mensch mit ausgeprägtem Intellekt, erfüllt von großer Schaffenskraft. Sogar in unserer Zeit findet man nur wenige Menschen, die ihm gleichkommen. Sie haben mit Recht Ren einen Jungen genannt, aber gleichzeitig ist er im wahrsten Sinne des Wortes ein Held. Nehmen Sie Dar Weter. Auch in ihm steckt etwas Jungenhaftes, nur entspringt es bei ihm einem Übermaß an physischer Kraft, während es sich bei Ren aus deren Fehlen ergibt.“
„Wie beurteilen Sie Mwen Mass?“ fragte Weda interessiert. „Sie haben ihn doch jetzt besser kennengelernt.“
„In Mwen Mass sind kalter Verstand und das archaische Gefühl zügellosen Verlangens wunderbar kombiniert.“
Weda Kong lachte auf.
„Wenn ich doch Ihre Exaktheit in der Charakterisierung erlernen könnte!“
„Es ist nun mal mein Fachgebiet, die Psychologie.“ Ewda zuckte mit den Schultern. „Aber darf ich Sie jetzt etwas fragen: Sie wissen, daß Dar Weter ein Mensch ist, der mich außerordentlich fesselt…“
„Sie befürchten halbe Entscheidungen?“ sagte Weda errötend. „Nein, hier wird es weder Halbheiten noch Unaufrichtigkeiten geben.“
Unter dem prüfenden Blick der Ärztin fuhr Weda ruhig fort: „Erg Noor… Unsere Wege haben sich seit langem getrennt. Doch konnte ich mich nicht ganz und gar von Erg entfernen, solange er im Kosmos war, und dadurch die Hoffnung und den Glauben an seine Rückkehr schwächen.“
Ewda Nal legte ihre schmale Hand auf Wedas Schulter.
„Das heißt also — Dar Weter?“
„Ja!“ antwortete Weda fest.
„Weiß er es?“
„Nein. Er wird es später erfahren, wenn die Expedition zurück ist. Wollen wir jetzt nicht zurückschwimmen?“ fragte Weda.
„Für mich wird es Zeit, das Fest zu verlassen“, sagte Ewda Nal, „mein Urlaub geht zu Ende. Vor mir liegt eine große neue Arbeit in der › Akademie des Leides und der Freude‹, aber vorher will ich noch meine Tochter besuchen.“
„Ist sie schon groß?“
„Sie ist siebzehn. Mein Sohn ist schon bedeutend älter. Ich habe die Pflicht jeder normal entwickelten Frau, mindestens zwei Kinder zur Welt zu bringen, erfüllt. Und jetzt möchte ich ein drittes haben — aber ein erwachsenes!“ Ewda lächelte, ihr Gesicht drückte zärtliche Liebe aus.
„Ich habe, mir immer einen hübschen kleinen Jungen mit großen Augen und einem niedlichen, staunenden Mund gewünscht. Aber mit Sommersprossen und Stupsnase“, sagte Weda, verschmitzt lächelnd.
„Haben Sie noch keine neue Arbeit?“ erkundigte sich Ewda Nal nach kurzem Schweigen.
„Nein. Ich warte auf die ›Tantra‹. Dann folgt eine lange Expedition.“
„Kommen Sie doch mit zu meiner Tochter“, schlug Ewda vor, und Weda willigte gern ein.
Über die ganze Wand des Observatoriums erstreckte sich der hemisphärische Siebenmeterbildschirm zur Vorführung von Bildern und Filmen, die mit starken Teleskopen aufgenommen worden waren. Mwen Mass schaltete die Übersichtsaufnahme des Himmelsabschnitts in der Nähe des Nordpols der Milchstraße ein — den Meridianstreifen der Sternbilder vom Großen Bären bis zum Raben und Centaurus. Dort, in den Jagdhunden, dem Haar der Berenike und der Jungfrau, befanden sich zahlreiche Galaxien — Sterneninseln des Weltalls in Form flacher Räder oder Scheiben. Besonders viele wurden im Haar der Berenike entdeckt: regelmäßige und unregelmäßige, mit unterschiedlicher Rotation und Projektion, solche, die unvorstellbar weit, oft Milliarden Parsek, entfernt waren, und solche, die ganze „Wolken“ aus Zehntausenden von Galaxien bildeten. Die größten erreichten einen Durchmesser von 20000 bis 50000 Parsek wie die Galaxis NN 89105 + SB 23, im Altertum auch als M 31 oder Andromedanebel bekannt. Von der Erde aus war sie als schwach leuchtende Sternwolke mit bloßem Auge zu erkennen. Schon vor langer Zeit waren die Menschen hinter das Geheimnis dieses Nebelflecks gekommen. Er erwies sich als ein riesiges spiralförmiges Sternsystem, das anderthalbmal so groß ist wie das Milchstraßensystem. Trotz der Entfernung von achthundertdreißigtausend Parsek führte die Erforschung des Andromedanebels zu wichtigen Erkenntnissen über unsere eigene Galaxis.
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