Dar Weter betrachtete die Gesichter dieser Skulpturen stets mit besonderer Anteilnahme. Er wußte, daß die Menschen, die die ersten künstlichen Satelliten konstruiert und das Tor zum Weltraum aufgestoßen hatten, Russen waren, Angehörige jenes Volkes, von dem er abstammte.
Auch jetzt wieder sah Dar Weter zu dem Denkmal hinüber, um erneut festzustellen, was die alten Helden und die modernen Menschen Gemeinsames hatten und worin sie sich unterschieden. Am Ende der Brücke tauchten zwei schlanke Gestalten auf, blieben stehen, und dann stürzte einer der jungen Leute schnell auf Dar Weter zu. Er schlang seinen Arm um Dar Weters breite Schultern und musterte verstohlen die ihm vertrauten Gesichtszüge.
Mit Wohlgefallen betrachtete Dar Weter den Sohn des berühmten Erbauers der Station auf dem Planeten des Centaurus und Vorsitzenden des Rates für Astronautik, der er nun schon fünfzehn Jahre hintereinander war. Grom Orm mußte mindestens hundertdreißig Jahre alt sein, also dreimal so alt wie Dar Weter.
Dis Ken rief seinen Begleiter herbei, einen dunkelhaarigen jungen Mann.
„Das ist Tor An, mein bester Freund; der Komponist Sig Sor ist sein Vater. Wir arbeiten beide in den Sümpfen“, fuhr Dis fort, „wollen gemeinsam unsere Herkulestaten vollbringen und auch weiter zusammenarbeiten.“
„Befaßt du dich immer noch mit der Vererbungskybernetik?“ fragte Dar Weter.
„Natürlich! Tor hat mich noch mehr dafür begeistert, er ist Musiker wie sein Vater. Er und seine Freundin träumen davon, zu erforschen, wie die Musik die Entwicklung des menschlichen Organismus leichter begreifen läßt, sie wollen in einer Sinfonie die Struktur des Organismus darstellen.“
„Du drückst dich etwas unklar aus“, meinte Dar Weter vorwurfsvoll.
„Ich verstehe es noch nicht besser“, erwiderte Dis verwirrt, „vielleicht kann es Tor richtig formulieren.“
Der junge Mann wurde rot, hielt aber dem prüfenden Blick stand.
„Dis wollte vom Rhythmus der Vererbung sprechen. Wenn sich der menschliche Organismus aus der Mutterzelle entwickelt, baut er sich in Akkorden aus Molekülen auf. Die ursprüngliche paarige Spirale entwickelt sich aus dem Modell einer Sinfonie. Mit anderen Worten, die Entwicklung des menschlichen Organismus wird durch das gleiche Programm wie Musik gelenkt.“
„So?“ rief Dar Weter übertrieben erstaunt. „Dann wollen Sie wohl auch die gesamte Evolution der organischen und anorganischen Materie auf eine große Sinfonie zurückzuführen?“
„Deren Aufbau und Rhythmik von den physikalischen Grundgesetzen bestimmt werden. Es muß nur erkannt werden, wie das Programm beschaffen ist und woher die Information für diesen musikalisch-kybernetischen Mechanismus stammt“, erklärte Tor An mit der festen Überzeugtheit der Jugend.
„Und von wem stammt diese Idee?“
„Von meinem Vater. Er hat kürzlich seine dreizehnte kosmische Sinfonie in f-Moll und der Farbtonart 4,750 μ komponiert.“
„Ich werde sie mir unbedingt einmal anhören. Ich liebe Blau. — Aber nun zu euren Herkulestaten. Wißt ihr schon, was für euch vorgesehen ist?“
„Nur die ersten sechs stehen bis jetzt fest.“
„Ach natürlich! Die restlichen sechs werden ja erst festgelegt, wenn die erste Hälfte vollbracht ist“, erinnerte sich Dar Weter.
„Wir sollen den unteren Teil der Höhle Kon-i-Gut in Mittelasien säubern und bewohnbar machen“, begann Tor An.
„Durch einen schroffen Gebirgskamm eine Straße zum Mental-See bauen“, setzte Dis Ken die Aufzählung fort, „eine Fläche in Argentinien neu mit Getreidebäumen bepflanzen, im Gebiet bei Trinidad, wo sich kürzlich der Meeresboden gehoben hat, die Ursachen für das Auftauchen der großen Oktopoden klären…“
„Und die Tiere vernichten.“
„Das sind fünf Aufgaben. Und welche ist die sechste?“
Die beiden jungen Leute drucksten eine Weile herum.
„Bei uns beiden hat man Befähigung für die Musik festgestellt“, sagte errötend Dis Ken. „Und nun sollen wir Material über die alten Tänze auf der Insel Bali sammeln und sie musikalisch und choreographisch rekonstruieren.“
„Mit anderen Worten, Tänzerinnen suchen und ein Ensemble zusammenstellen“, meinte lachend Dar Weter.
„Ja“, bestätigte mit niedergeschlagenen Augen Tor An.
„Ein interessanter Auftrag! Aber das ist doch eine Kollektivaufgabe, ebenso wie der Straßenbau zum See.“
„Oh, wir sind ein gutes Kollektiv! Die anderen wollen Sie ebenfalls bitten, ihr Mentor zu sein. Das wäre eine feine Sache!“
Dar Weter gab zu bedenken, daß er für die sechste Tat nicht der geeignete Mentor sei. Aber freudestrahlend versicherten ihm die beiden jungen Leute, Sig Sor selbst habe versprochen, sie bei der sechsten Tat anzuleiten.
„In einem Jahr und vier Monaten suche ich mir in Mittelasien eine Beschäftigung“, sagte Dar Weter.
„Gut, daß Sie jetzt nicht mehr die Außenstationen leiten!“ rief Dis Ken, „Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, daß ich solch einen Mentor bekomme.“ Plötzlich wurde der junge Mann puterrot, seine Stirn bedeckte sich mit kleinen Schweißperlen. Tor An sah ihn vorwurfsvoll an.
Dar Weter beeilte sich, Grom Orms Sohn aus der Verlegenheit zu helfen.
„Habt ihr viel Zeit?“
„Leider nicht! Drei Stunden hat man uns beurlaubt. Wir haben einen Fieberkranken von unserer Sumpfstation hierhergebracht.“
„Sieh mal an! Das Fieber existiert also immer noch. Und ich dachte…“
„Ganz selten tritt es auf, nur noch in den Sumpfgebieten“, warf Dis hastig ein. „Deshalb sind wir ja auch da.“
„Bleiben uns also noch zwei Stunden. Fahren wir in die Stadt — ihr möchtet euch doch bestimmt gern das Haus des Neuen ansehen?“
„Nein! Wir möchten lieber, daß Sie uns Fragen beantworten. Wir haben uns schon welche zurechtgelegt. Das ist auch wichtig für unsere Zukunft.“
Dar Weter war einverstanden, und so gingen die drei in eines der kühlen Zimmer des Gästesaals.
Zwei Stunden später beförderte ein anderes Fahrzeug Dar Weter weiter, der, müde geworden, auf einer weichen Bank des Wagens eingeschlafen war. Er erwachte auf der Station der Chemikerstadt. Über einem großen Kohlevorkommen erhob sich ein gigantisches Bauwerk in Form eines Sterns mit zehn gläsernen Zacken. Die Kohle wurde hier zu Arzneimitteln, Vitaminen, Hormonen, Kunstseide und synthetischem Pelz verarbeitet. Die Abfallprodukte dienten der Zuckerherstellung. In einem der Zacken wurden aus der Kohle seltene Metalle wie Germanium und Vanadium gewonnen. Was war nicht alles in dem wertvollen schwarzen Gestein enthalten!
Ein alter Freund Dar Weters, der hier als Chemiker arbeitete, kam zur Station. Mit einem dritten hatten sie einst als junge Mechaniker auf einer indonesischen Station für Erntemaschinen im Tropengürtel gearbeitet. Jetzt war der eine Chemiker und Leiter eines großen Laboratoriums, der zweite war sozusagen bei der Landwirtschaft geblieben — er hatte eine neue Bestäubungsmethode entwickelt — und der dritte, Dar Weter, kehrte nun wieder zur Erde zurück. Das Wiedersehen der beiden Freunde dauerte nicht länger als zehn Minuten, war aber viel schöner als auf den Bildschirmen der Televisiofone.
Die Weiterreise ging rasch vonstatten. Der Direktor der Breitengrad-Luftverkehrslinie erfüllte Dar Weters Bitte mit dem freundlichen Entgegenkommen eines Menschen aus der Ära des Großen Rings. Dar Weter durfte sofort über den Ozean fliegen und befand sich nun auf dem Westzweig der Spiralstraße südlich der siebzehnten Abzweigung, die an der Küste endete. Dort stieg er in ein Gleitboot um.
Hohe Berge traten bis dicht ans Ufer. An den sanft ansteigenden Hängen waren Terrassen aus weißem Gestein angelegt, die den aufgeschütteten Boden zurückhielten. Auf den Terrassen standen ziemlich weit voneinander entfernt orangerot und kanariengelb gestrichene Häuschen mit blaugrauen Dächern.
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