Weda drehte sich um und wies stumm nach vorn. Dort schwebte in der hitzeflirrenden Luft, scheinbar losgelöst vom Boden, eine dunkle Insel. Als sie näher kamen, erwies sich diese Insel als ein niedriger Hügel — wahrscheinlich war es die Kippe einer früheren Erzgrube. Von den Schachtanlagen war nichts mehr übriggeblieben.
Plötzlich neigte sich die fliegende Plattform stark zur Seite.
Instinktiv faßte Dar Weter Weda um die Taille und verlagerte sein Gewicht auf den Teil der Plattform, der sich gehoben hatte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte der Flugschrauber seine alte Lage wieder eingenommen, prallte jedoch im nächsten Augenblick auf den Hügel auf. Durch den Rückstoß der Stoßdämpfer wurden Weda und Dar Weter auf den Abhang geschleudert, mitten hinein in das dichte Gestrüpp. Nach kurzem Schweigen zerriß Wedas dunkles Lachen die Stille der Steppe. Dar Weter stellte sich sein verblüfftes und zerkratztes Gesicht vor und versicherte Weda voll unbewußter Freude immer wieder, daß sie unverletzt und der Unfall glimpflich abgelaufen sei.
„Jetzt ist mir klar, warum man mit den Flugschraubern nicht höher als acht Meter fliegen darf“, meinte Weda Kong, ein wenig außer Atem vor Lachen.
„Bei einer Panne stürzt die Maschine sofort ab, und dann kann man nur noch auf die Stoßdämpfer hoffen. Doch bei dem leichten Gewicht und der geringen Größe müssen wir das nun mal in Kauf nehmen. Kann sein, daß wir noch nachträglich für alle glücklich verlaufenen Flüge zahlen müssen“, sagte Dar Weter mit schlecht gespieltem Gleichmut.
„Und wie?“ fragte Weda, ernst geworden.
„Die Stabilisatoren haben sehr lange einwandfrei gearbeitet; das läßt darauf schließen, daß sie äußerst kompliziert konstruiert sind. Ich fürchte, es wird sehr lange dauern, bis ich mit ihnen zurechtkomme. Wahrscheinlich werden wir von hier nur fortkommen wie einst unsere armen Urahnen.“
Verschmitzt lächelnd hielt Weda Dar Weter die Hand hin, und er zog sie mit Leichtigkeit hoch. Sie kletterten zu dem abgestürzten Flugschrauber hinab, rieben ihre Kratzwunden mit einer wirksamen Heiltinktur ein und klebten ihre zerrissene Kleidung wieder zusammen. Dar Weter forderte Weda auf, sich in den Schatten eines Strauches zu legen, und er ging daran, nach den Ursachen für die Havarie zu suchen. Wie bereits vermutet, war der automatische Kompensator defekt, und seine Blockierungsvorrichtung hatte den Motor ausgeschaltet. Kaum hatte Dar Weter das Gehäuse geöffnet, war ihm klar, daß eine Reparatur aussichtslos war — es würde zu lange dauern, bis er das Schema dieser höchst komplizierten Elektronik herausgefunden hatte. Er seufzte ärgerlich, richtete sich auf und schaute zu dem Strauch hinüber, unter dem Weda Kong lang. So weit das Auge reichte, war die heiße Steppe menschenleer. Langsam kreisten zwei große Raubvögel über wogendem bläulichem Dunst.
Die gehorsame Maschine lag als tote Scheibe am Boden. Ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit beschlich Dar Weter. Doch Angst verspürte er nicht. Mochte nur die Nacht kommen — dann würde die Sichtigkeit besser werden und sie würden bestimmt ein Feuer entdecken. Sie waren ohne jedes Gepäck losgeflogen, hatten weder ein Sprechfunkgerät noch Taschenlampen noch Lebensmittel mitgenommen.
Früher mußten die Menschen in der Steppe verhungern und verdursten, wenn sie nicht genügend Lebensmittel und Wasser mitgenommen hatten, dachte Dar Weter und kniff die Augen vor dem grellen Licht zusammen. Er ging zu Weda hinüber und streckte sich unbekümmert neben ihr aus, wobei ihn die trockenen Grashalme durch die leichte Kleidung hindurch stachen. Die Hitze und das leise Rauschen des Grases versetzten ihn in eine Art Dämmerzustand, in dem sich die Gedanken nur langsam formten. In geruhsamer Folge zogen Bilder aus längst vergangenen Zeiten an seinem geistigen Auge vorüber.
„Dar!“ hörte er im Halbschlaf die vertraute Stimme rufen, öffnete die Augen und richtete sich auf.
Der rote Sonnenball berührte schon die dunkle Linie des Horizonts. Kein Lüftchen regte sich mehr.
„Dar Weter, mein Gebieter!“ sagte Weda, verschmitzt lächelnd, und verneigte sich vor ihm wie einst die Frauen Asiens vor ihren Männern, „Geruhe aufzuwachen und dich meiner zu erinnern!“
Nach einigen gymnastischen Übungen war Dar Weter wieder hellwach. Weda stimmte seinem Vorschlag zu, die Nacht abzuwarten. Sie waren so vertieft in ihre Unterhaltung über die Ausgrabungen, daß sie den Eintritt der Dämmerung gar nicht wahrgenommen hatten. Plötzlich bemerkte Dar Weter, daß Weda fröstelte und ganz kalte Hände hatte. Ihre leichte Kleidung bot kaum Schutz gegen die nächtliche Kälte dieser nördlichen Breiten.
Auf dem sechzigsten Breitengrad wurde es im Sommer nachts nie recht dunkel, so daß sie ohne Schwierigkeiten einen großen Haufen Reisig zusammensuchen konnten.
Mit lautem Knall sprang der Funke über, als Dar Weter den starken Akkumulator des Flugschraubers kurzschloß, und ein wenig später spendete ein helles Feuer den beiden wohltuende Wärme und ließ die Dämmerung ringsum dunkler erscheinen.
Weda hörte bald auf zu frösteln. Beide hingen ihren Gedanken nach. Tief im Innern des Menschen hat sich über Jahrtausende hinweg das Gefühl bewahrt, am Feuer geborgen zu sein, wenn einen Kälte und Dunkelheit umgeben.
„Was bedrückt Sie, Weda?“ brach Dar Weter das Schweigen.
„Mir ist die Frau mit dem Tuch wieder eingefallen“, erwiderte Weda leise, ohne den Blick von dem rotgolden verglühenden Reisig zu wenden.
Dar Weter wußte sofort, wovon sie sprach. Kurz vor ihrem Abflug hatten sie in den Steppen am Fuße des Altai ein großes Hügelgrab der Skythen geöffnet. In einem noch gut erhaltenen Holzschrein lag das Skelett eines greisen Heerführers, ringsherum verstreut, halb verschüttet, Gebeine von Pferden und Sklaven. Zu Füßen des mit Panzer, Schwert und Schild bestatteten Heerführers fand sich das zusammengekrümmte Skelett einer noch jungen Frau. Ihren Schädel umschloß ein seidenes Tuch, das sich wohl einst straff um das Gesicht gespannt hatte. Trotz aller Kunstgriffe ließ sich das Tuch nicht konservieren, doch bevor es zu feinem Staub zerfiel, konnte man die Umrisse des schönen Gesichtes genau rekonstruieren, das Jahrtausende zuvor seinen Abdruck auf dem Gewebe hinterlassen hatte. Aber noch etwas anderes ließ das Tuch in schrecklicher Genauigkeit erkennen: den Abdruck der hervorgequollenen Augen der Frau, die zweifellos mit diesem Tuch erdrosselt und in das Grab ihres Gatten geworfen worden war, um ihn ins Jenseits zu begleiten. Sie mochte nicht älter als neunzehn Jahre gewesen sein, er dagegen mindestens siebzig, für jene Zeiten ein hohes Alter.
Dar Weter mußte an die Diskussion denken, die nach dem Fund unter den jungen Expeditionsmitgliedern entbrannt war. War die junge Frau ihrem Gatten freiwillig in den Tod gefolgt, oder war sie gezwungen worden? Warum? Was hatte sie dazu veranlaßt? Wenn es grenzenlose Liebe gewesen war, wie hatte man sie da töten können, statt sie als schönste Verkörperung dieses Gefühls den Lebenden zurückzulassen?
Da griff Weda Kong in die Diskussion ein. Lange hatte sie mit brennenden Augen auf den dunklen Hügel gestarrt, als wollte sie tief in die Vergangenheit eindringen.
„Versucht doch einmal jene Menschen zu verstehen. Für sie war die Steppe grenzenlos, denn die einzigen Verkehrsmittel, die sie kannten, waren Pferde, Kamele und Rinder. Und in diesen ungeheuer weiten Ausdehnungen lebten einzelne Gruppen viehzüchtender Nomaden, die nicht nur keine Verbindung miteinander hatten, sondern sogar in erbitterter Feindschaft lebten. Haß und Groll wuchsen von Generation zu Generation; jeder Fremde war ein Feind, jeder Stamm eine potentielle Beute, die Vieh und Sklaven versprach, das heißt Menschen, die wie Vieh unter der Knute arbeiteten. Diese Gesellschaftsordnung brachte für den einzelnen Menschen eine uns völlig unbekannte Freiheit seiner kleinen Leidenschaften und Wünsche mit sich, aber auch geistige Enge und eine unglaubliche Verschlossenheit menschlicher Beziehungen. Eine kleine Völkerschaft oder eine Stammesgemeinschaft, die sich von der Jagd und vom Früchtesammeln ernährte, führte ein freies Nomadenleben, hatte aber ständig Überfälle und Versklavung oder Ausrottung durch ihre kriegerischen Nachbarn zu fürchten. War jedoch das Land durch natürliche Grenzen geschützt und von vielen Menschen bevölkert, so daß eine starke Militärmacht entstehen konnte, dann mußten die Menschen für den Schutz vor Überfällen ebenfalls mit ihrer Freiheit bezahlen, denn in solchen starken Staaten entwickelten sich stets Despotie und Tyrannei. So zum Beispiel im alten Ägypten, in Assyrien und Babylonien.
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