Ich rannte, ohne nachzufragen, los. Die Republikanische Garde hatte den Bibliothekstrakt abgeriegelt, und mir wurde angst und bange, als ich Julians Leibarzt vor mir durch den Kordon eilen sah. Die Gardisten ließen mich nicht durch, wie sehr ich auch protestierte. Dann tauchte Sam Godwin auf und schob mich vor sich her in den Trakt.
Ich fürchtete das Schlimmste. In dem Maße, wie Julians »Krieg« mit dem Dominion eskaliert war, hatte der Sockel, auf dem er stand, Risse bekommen. Letzte Woche erst hatte er bis auf Weiteres alle einstweiligen Verfügungen des Dominions für null und nichtig erklärt. Was bedeutete, dass die Behörden vorerst alle finanziellen Forderungen, Beschlagnahmungen oder Inhaftierungen als gegenstandslos zu betrachten hatten, wenn sie ausschließlich von der Kirche veranlasst waren. Mit dem Resultat, dass Calyxa nicht länger unter Hausarrest stand und zahllose eingesperrte Ketzer freikamen sowie Anhänger sogenannter Freikirchen und radikale Parmentieristen, die nur auf ekklesiastische Veranlassung inhaftiert waren, nicht zu vergessen die bedauernswerten Spinner, die hartnäckig ihre eigene Göttlichkeit verkündeten.
Dass Julian diese Verfügungsgewalt gekippt hatte und nach wie vor die Trennung zwischen Kirche und Militär betrieb, lief auf eine Kastration des Dominions hinaus. Das Dominion durfte nach wie vor den Zehnten seiner Mitgliedskirchen erheben und den Bann über Dissidenten aussprechen; doch ohne legislativen Rückhalt würde es zunehmend an Boden verlieren — hoffte Julian.
Als Quittung hatten sie einen Killer in die »Höhle des Löwen« geschickt: Denn für mich stand fest, wer die Drahtzieher waren. »Ist Julian tot?«, fragte ich Sam, als wir uns einen Weg durch die Menge bahnten.
»Weiß ich nicht«, sagte Sam. »Wurde ein Arzt gerufen?«
»Ja, er ist hier reingegangen …«
Aber Julian war nicht tot. Er befand sich im Lesesaal, saß in einem Lehnstuhl, aufrecht und hellwach, einen Verband um den Kopf gewickelt. Als er uns sah, rief er uns beim Namen.
»Bist du schlimm verletzt?«, wollte Sam wissen.
»Nicht sehr«, meinte Julian grimmig. »Sagt jedenfalls der Doktor — die Kugel hat das Ohr erwischt.«
»Wie ist es passiert?«
»Der Mann hatte sich hinter einem Sessel versteckt und sprang plötzlich auf mich zu. Er hätte mich todsicher umgebracht, wenn Magnus ihn nicht gesehen und laut aufgeschrien hätte.«
»Verstehe«, sagte Sam. »Wo ist Magnus jetzt?«
»Magnus hat sich hingelegt. Die Sache hat ihn schwer mitgenommen — er ist zartbesaitet.«
»So was steckt man nicht so leicht weg. Was ist mit dem Attentäter?«
»Die Garde war nicht zimperlich«, sagte Julian. »Er liegt in einer Zelle im Tiefgeschoss.«
Im Tiefgeschoss des Regierungspalasts gab es einen Komplex mit Zellen. [105] Die Zellen waren in der Amtszeit des ersten Comstock entstanden und seitdem von jedem Comstock benutzt worden, auch von Julian: Julians Onkel Deklan schmachtete schon seit seiner Amtsenthebung in diesem internen Gefängnis.
»Hat er was gesagt?«, fragte Sam.
»Man hat ihm die Zunge rausgeschnitten, vermutlich schon vor Jahren; und schreiben kann oder will er nicht. Das Dominion wählt seine Leute sorgfältig aus — es weiß, wie man Menschen zum Sprechen bringt — aber auch zum Schweigen.«
»Weißt du genau, dass er vom Dominion geschickt wurde?«
»Beweise mir das Gegenteil. Ich brauche keine Gewissheit, um einem wohlbegründeten Verdacht zu folgen.«
Sam schüttelte nur den Kopf; nach ihm — und daraus machte er keinen Hehl — hatte Julian sich bei seiner Auseinandersetzung mit dem Dominion auf einen Kurs begeben, der einem Sprung ins tosende Wildwasser des oberen Niagara gleichkam.
»Das Motiv des Mannes liegt jedenfalls auf der Hand«, sagte Julian. »Er hatte einen primitiv gedruckten Handzettel dabei, der die Wiedereinsetzung von Deklan dem Eroberer fordert.«
»Aber wenn er doch nicht lesen oder schreiben kann …«
»Ich glaube, der Handzettel war ein Requisit, das den Verdacht vom Klerus ablenken sollte, obwohl — wer sonst als der Klerus hat ein Interesse, dass Deklan wieder an die Spitze der Regierung kommt? Trotzdem, ich will nicht, dass Deklan als Nagel benutzt wird, an den Meuchelmörder ihre Hoffnungen hängen. Ich muss mich dringend um ihn kümmern.«
Bei diesen Worten stand ein kalter Glanz in seinen Augen. Weder Sam noch ich trauten uns nachzufragen, obwohl uns Böses schwante.
»Und dann die Republikanische Garde …«, fuhr Julian fort.
»Was ist mit den Männern? Haben sie nicht sofort reagiert, als sich der Attentäter zeigte?«
»Aber sie hätten vorher reagieren sollen; wozu brauche ich sie sonst? Eine Prise Glück und Magnus Stepney haben mir das Leben gerettet, nicht die Gardisten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieser Mann so weit kommen konnte, ohne einen Kollaborateur in den Reihen der Garde zu haben. Ich habe diese Leute vom letzten Regime geerbt und traue ihnen nicht.«
»Noch einmal«, sagte Sam in einem versöhnlichen Ton, »du weißt nicht …«
»Ich bin der Präsident, Sam, geht das nicht in deinen Kopf? Ich muss nicht wissen; ich muss handeln.«
»Was gedenkst du zu tun?«
Julian zuckte die Schultern; falls er Rat suchte, suchte er ihn offenbar nicht bei uns.
Sam verabschiedete sich, als die Krisenstimmung abklang — er hatte anderweitig zu tun. Ich wollte Julian noch nicht allein lassen und sah zu, wie der Doktor den provisorischen Verband entfernte, um das verletzte Ohr mit Jod zu betupfen und die aufgerissenen Ränder zu nähen. Julians Leibarzt ging so ruhig und professionell zu Werke, wie es Dr. Linch in Striver getan hatte; trotzdem würde eine Narbe zurückbleiben. »An meinem Kopf ist rumgeschnippelt worden wie an einem Kuchenapfel«, beschwerte sich Julian. »Es wird allmählich langweilig, Adam.«
»Bestimmt, Julian. Du solltest dich jetzt ausruhen.«
»Noch nicht. Es gibt Angelegenheiten, die vertragen keinen Aufschub.«
»Was für Angelegenheiten?«
Sein Blick war vollkommen ausdruckslos.
»Präsidentensache«, sagte er.
Die Presse brachte nichts über das Attentat auf den Präsidenten — die Sache war ihr zu heiß; Julian dagegen machte seine Reaktion auf den Mordversuch auf seine Art publik. Ich wurde Zeuge, als ich am nächsten Morgen das Palastgelände verließ, um einen Spaziergang auf dem Broadway zu machen.
Auf der 59 stenhinter dem Gate gab es einen Menschenauflauf. Die Leute starrten mit aufgerissenen Augen nach oben. Erst als ich draußen auf dem Bürgersteig vor der hohen Umfassungsmauer stand, konnte ich sehen, was die Leute derart in den Bann schlug.
Hoch oben auf den Eisenspitzen, die die Mauer überragten, steckten zwei Köpfe, einer links und einer rechts vom Tor.
Das war grausiger als alles, was ich in Labrador erlebt hatte, vor allem, weil die Stadt ansonsten so friedlich war. Beispiellos war der Anblick allerdings nicht. In früheren Zeiten hatte man hier die Köpfe von Verrätern zur Schau gestellt, aber nur noch selten seit den turbulenten 2130ern. Die Identität der Opfer war von hier unten schwer auszumachen, zumal die Gesichter verzerrt und von Tauben angepickt waren. Doch ein paar Schaulustige hatten sich Operngläser geholt, und in der Menge wuchs die Übereinstimmung. Keiner der Anwesenden kannte den Kopf auf der linken Seite (konnte ihn auch nicht kennen, denn er gehörte dem Attentäter, den man im Bibliothekstrakt überwältigt hatte). Anders der Kopf auf der rechten Seite — er hatte unlängst noch auf den Schultern von Deklan dem Eroberer gesessen; der frühere Präsident, der in seinem Neffen den Thronräuber gefürchtet hatte, hatte jetzt nur noch das Urteil des gerechten Gottes zu fürchten.
Die unerfreulichen Trophäen faulten dort eine Woche lang vor sich hin. Jeden Tag aufs Neue sammelten sich kleine Jungs am Gate und warfen mit Steinen nach den Köpfen, bis sich die scheußlichen Verunzierungen von den Eisenspitzen lösten und hintenüber aufs Palastgelände fielen.
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