Und was die Lieder anging, die so wichtig waren für den Erfolg solcher Produktionen — was hätten wir Besseres tun können, als Calyxas außerordentliche Talente in Anspruch zu nehmen? Julian versorgte sie mit Büchern aus dem Bestand des Dominion-Archivs, darunter eine Biografie Darwins und Bücher über die Taxonomie von Käfern, die Geografie Südamerikas und die Lebensweise von Seeräubern. Calyxa nahm ihre Aufgabe sehr ernst und las alle diese Bücher mit großer Aufmerksamkeit. Wenn die Haushaltshilfe nicht da war, musste ich mich nicht selten um Flaxies Belange kümmern (die zahlreich und meist unaufschiebbar waren), während Calyxa ihrer schöpferischen Arbeit an Schreibtisch und Klavier nachging.
In wenigen Tagen hatte sie Arien und Melodien für alle drei Akte entworfen. Sie führte sie Julian eines Abends vor, als er zusammen mit Pastor Stepney zu unserer wöchentlichen Drehbuchkonferenz stieß. Julian blätterte in Musik und Texten, und sein Mienenspiel verriet, dass er zunehmend Gefallen daran fand. Dann wandte er sich an Calyxa und sagte: »Du solltest uns das eine oder andere mal vorsingen. Magnus kann keine Noten lesen.«
»Die meisten Arien sind männlich besetzt«, sagte Calyxa, »abgesehen von ein, zwei Liedern, die Emma singt.«
»Das versteht sich. Hier«, sagte er und reichte ihr einen der ersten Abschnitte, in dem der junge Charles Darwin auf einer Käfer-Expedition in den Wäldern außerhalb von Oxford seine Kusine Emma erblickt. [102] Die Engländer jener Zeit zierten sich nicht, Kusinen zu umwerben und zu heiraten. Eine Praxis, die auch bei unseren Eupatriden gang und gäbe ist.
Calyxa setzte sich ans Klavier und griff das Lied da auf, wo Darwin den Inhalt seines Keschers in Augenschein nimmt und singt:
These creatures yet are all alike in
Several ways that I find striking:
Six legs fixed on a tripart body;
External shells, some plain, some gaudy;
Some have wings or hooks or hair
- distinctions, yes, eight, ten, a dozen —
And yet in General Structure they’re
As like as I am to my cousin.
Here comes my cousin now! And as she
Pauses in the shady hedge-wood
I hope she’ll turn her eyes to me,
That young and pious Emma Wedgwood!
White summer dress, blue summer bonnet,
A red coccinellid clinging on it …
»Stopp!«, rief Julian. »Was ist ein coccinellid ?«
»Marienkäfer«, sagte Calyxa knapp.
»Sehr gut! Weiter.«
All life intrigues me, without doubt,
And yet in truth (for truth will out),
I find Miss Emma’s pretty legs
More interesting than Skate-Leech-Eggs … [103] Diese Geschöpfe ähneln sich dennoch auf verblüffende Weise: sechs Beine an einem dreigeteilten Leib; äußere Schalen, die einen schlicht und andere bunt; manche haben Flügel oder Haken oder Haar — Unterschiede, ja, acht, zehn oder zwölf — und dennoch ähneln sie sich in ihrer Bauweise so sehr, wie ich meiner Kusine ähnele. Da kommt sie gerade! Und wie sie so innehält im Schatten der Bäume, hoffe ich, dass sie hersieht, diese junge und fromme Emma Wedgwood! Weißes Sommerkleid, blaues Sommerbonnet, an dem ein roter Marienkäfer hängt. Alles Lebendige fasziniert mich, das ist wahr, und dennoch finde ich in Wahrheit (die Wahrheit will ans Licht) Fräulein Emmas Beine interessanter als die Eier des Rochen-Egels …
Julian unterbrach noch ein paarmal, wenn er etwas nicht verstand, aber im Großen und Ganzen konnte Calyxa ungestört singen — die gesamte Partitur, außer einem Duett (das sie alleine nicht bewerkstelligen konnte) und dem vielstimmigen Medley am Ende. Sie sang die männlichen Partien con effeto und die weiblichen in einem gefühlvollen Alt und schlug mit Begeisterung und Können in die Tasten. Klein Flaxie konnte bei dem Lärm unmöglich schlafen, und ihre Amme kam mit ihr nach unten und setzte sich zu uns. Am Ende hatte Calyxa uns fast eine Stunde lang herrlich unterhalten und rückte mit einem zufriedenen Lächeln vom Klavier ab. Sie löste das Tuch aus ihrem Haar, und über ihre schlanke Gestalt perlten schwarze Löckchen in seltener Fülle [104] … and down her slender form there spread / Black ringlets rich and rare … aus The Hidden Hand von Emma D. E. N. Southworth (1819–1899) (Anm. d. Übers.)
, während Julian applaudierte und wir alle einfielen. Es wurde eine lange Ovation. Sogar Flaxie wollte mitklatschen, obwohl sie darin noch unbeholfen war und ihre Händchen sich meist verfehlten.
Es war alles in allem die schönste Zeit, die wir seit langem miteinander verbracht hatten, und wir hätten eine große Familie sein können, die nach langer Trennung wieder glücklich vereint war und sich nicht um Gram und Gefahr scherte, die über unseren Köpfen kreisten wie Aasvögel über einem schwindsüchtigen Maultier.
Im Spätsommer schlich sich ein Attentäter in den Regierungspalast und versteckte sich im Bibliothekstrakt, um Julian dem Eroberer mit aufgesetzter Pistole in den Kopf zu schießen.
Aus August wurde September und die Produktion von The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin kam gut voran. Julian war nicht müßig gewesen, während wir an Buch und Musik gearbeitet hatten. Er hatte das Projekt mit der ganzen Macht seiner Präsidentschaft vorangetrieben und mit einem guten Teil des Vermögens, das er als Comstock verwaltete. Dort, wo das Palastgelände an die 110te Straße West grenzt, hatte er eine Reihe von unbenutzten Stallungen renovieren und in ein »Filmstudio« verwandeln lassen, das in Manhattan seinesgleichen suchte. Und er hatte die Talente der New York Stage and Screen Alliance angeworben, der besten Produktionsgesellschaft der Stadt. Dieses Team aus Schauspielern, Sängern, Geräuschemachern, Kameraleuten, Filmkopierern und anderen war bereits für viele beachtliche Filme verantwortlich, darunter der früher schon beschriebene Film Eula’s Choice. In der Vergangenheit war man allerdings ausnahmslos durch Restriktionen, nicht zuletzt des Dominions, in seinen Möglichkeiten beschnitten gewesen. In diesem speziellen Fall war man direkt Julian unterstellt, er hatte das Sagen und sonst niemand.
An dem besagten Tag hielt ich mich im »Studio« auf und verfolgte Aufnahmen, an denen keine Hauptdarsteller beteiligt waren. Magnus Stepney alias Darwin hatte heute seinen drehfreien Tag; und die Schauspielerin Julinda Pique alias Emma Wedgwood war zu Besuch bei Verwandten in New Jersey. Mich interessierte aber gerade die mehr technische Seite der Dreharbeiten. Ich hatte mich mit dem Kameramann angefreundet, der für die Illusionen verantwortlich war, dem sogenannten Effects Shooter. Ich half ihm bei den Aufnahmen für die Südamerika-Montage im zweiten Akt. Er hatte ein wandgroßes Gemälde aufgestellt, auf dem ein beängstigend realistischer Dschungel samt Gebirge zu sehen war; davor hatte er einige sehr überzeugende Papierimitationen von tropischen Pflanzen und Büschen arrangiert sowie als Tiger verkleidete zahme Hunde und etliche Gürteltiere, die Julian aus Texas geordert hatte, die meisten waren noch am Leben. Julian hatte ihn angewiesen, die Kamera immer in Bewegung zu halten, um noch mehr Leben in die Sequenz zu bringen. Was der Effect Shooter auch beherzigte, wobei er die unruhigen Tiere nicht aus dem Bild verlieren und ebenso wenig den Hintergrund versehentlich als gemalte Kulisse entlarven durfte. Das war eine schweißtreibende Arbeit an diesem schwülen Septembertag, und der Mann stieß ein paar ungewöhnliche Verwünschungen aus, ehe das Ergebnis seinen Vorstellungen entsprach.
Er war dabei, den Set abzubauen, als ein Regierungspage in grüner Livree angelaufen kam. Der junge Mann war offensichtlich erregt und musste erst wieder zu Atem kommen. »Es sind Schüsse gefallen, Major Hazzard!«, keuchte er. »Schüsse im Palast, Sir!«
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