»Kann der Senat kein Gesetz erlassen?«
»Gegen die Impfläden? Könnte er schon; aber die Senatoren sind mit der Idee des Freien Handels verheiratet und mit der ›unsichtbaren Hand‹ des Marktes und lauter solchen Chimären. Natürlich bekommen auch sie die Folgen zu spüren — spätestens wenn ihre Töchter erkranken. Fünfzehn Fälle allein in dieser Woche. Letzte Woche zehn. Kein Pockenstamm, den wir kennen. Nach Aussehen und Symptomen zwischen Hundepocken und Denver Pocken.«
»Und der Verlauf?«
»Weniger als die Hälfte meiner Patientinnen haben überlebt.«
Das war alarmierend. »Rechnen Sie denn mit einer Epidemie?«
»Im Laufe meines Berufslebens ist diese Stadt mindestens sechsmal heimgesucht worden. Und es ist kein Tag vergangen, an dem ich keine Angst vor einem neuen Ausbruch hatte, Mr. Hazzard. Wir wissen nicht, wie es zu einer Epidemie kommt, und wir wissen nicht, wie man sie aufhalten kann. Wenn es nach mir ginge …«
Ich sollte nie erfahren, was hätte getan werden müssen, wenn es nach ihm ginge, denn Calyxa rief plötzlich um Hilfe. Ihre Presswehen hatten eingesetzt, und Polk stürzte zur Treppe, um ihr beizustehen.
Ich blieb unten. Er hatte mir geraten, mich fernzuhalten, und ich hatte ihm nicht widersprochen. Alles, was ich über den Vorgang der Geburt wusste, war das, was ich als Stalljunge in Williams Ford gelernt hatte. Theoretisch verstand ich, dass Calyxa nun dieselben Strapazen durchmachen würde wie die fohlenden Zuchtstuten der Duncans und Crowleys, aber meine Erinnerungen wollten nicht zu meinen intimen Kenntnissen über Calyxa passen — ein Vergleich war nur ekelhaft.
Oben aus dem Schlafzimmer kamen Calyxas Schreie in immer kürzeren Abständen. Dr. Polk hatte sofort, als die Wehen einsetzten, nach einer Geburtshelferin geschickt (wie die Eupatriden ihre Hebammen nannten), und als die Frau eintraf und meine hilflose Angst sah, träufelte sie etwas Hanföl und Opium in ein Glas Wasser und verlangte, dass ich die Arznei in einem Zug austrank.
Ich war solche Tinkturen nicht gewöhnt. Die Wirkung trat noch in derselben Stunde ein und war alles andere als beruhigend. Meine Gedanken machten sich selbstständig; nicht lange, und meine ganze Aufmerksamkeit galt den Türen unserer Küchenschränke. Das geölte Eichenholz wurde zu einer Art Kinoleinwand, und die Maserung verwandelte sich in Tiere, Dampfmaschinen, tropische Wälder, Kriegsszenen und allerlei andere Dinge. Diese Eindrücke gingen ineinander über wie das sprudelnde und gurgelnde Wasser eines steinigen Wildbachs. Ich lachte über einige Visionen und prallte vor anderen zurück — ein Beobachter hätte meinen können, ich sei schwachsinnig…
Dr. Polk und die Hebamme geisterten um mich herum, ließen Wasser in Gefäße laufen, wuschen Handtücher aus. Stunden vergingen, die ebenso gut Minuten oder Monate hätten sein können. Erst ein gewaltiger Schrei aus dem Schlafzimmer riss mich vollends aus meinen Tagträumen — ein tiefer Schrei aus einer männlichen Kehle, Dr. Polk.
Ich erhob mich schwankend. Nicht dass ich den Rat des Doktors vergessen hätte, ihm nicht im Weg zu sein. Doch jetzt herrschte eine Art Ausnahmezustand. Hatte Dr. Polk wirklich geschrien, oder hörte ich Gespenster? Ungewissheit verzögerte meine Schritte. Dann tat es noch einen Schrei, er stammte weder von Calyxa noch von Polk — er kam aus einer weiblichen Kehle, die Hebamme! Eine kalte Hand griff mir ans Herz, und ich stürzte die Treppe hinauf.
Lauter grässliche Bilder umschwirrten mich. Monströse Miss- und Fehlgeburten waren an der Tagesordnung gewesen, damals, während der Plage der Kinderlosigkeit, und sie kamen auch heute noch vor, selbst in der zweiten Hälfte des 22. Jahrhunderts. Ich verjagte den Gedanken, Calyxa könne ein Geschöpf zur Welt gebracht haben, das selbst einen abgehärteten Arzt vor Entsetzen aufschreien ließ. Die Treppe war unmöglich steil, und ich rang nach Atem, als ich den Absatz erreichte. Die Schlafzimmertür war angelehnt. Ich tat einen unsicheren Satz …
Die Ursache der Aufregung sprang sofort ins Auge, obwohl ich erst meinen Augen nicht traute.
Dr. Polk und die Schwester standen mit dem Rücken zur Wand, die Gesichter schreckverzerrt. Sie starrten auf das riesige Doppelfenster des Schlafzimmers. Heute Morgen hatte Dr. Polk die Fensterläden aufgestoßen, was er häufig tat, weil er frische Luft für die beste Medizin hielt. Und in ebendiesem Fenster stand ein gigantischer, übelriechender, tierischer Kopf.
Ich war nicht mehr so berauscht, dass ich nicht kapierte, was passiert war. Der Kopf gehörte Otis. Otis, die verwaiste Giraffe, war durch die nicht alltäglichen Geräusche und Gerüche einer Niederkunft angelockt worden. Ans Haus herangewandert, hatte der Junggeselle den Kopf in das offene Fenster gesteckt, eine natürliche und unbefangene Weise, seine Neugier zu befriedigen. Nur dass weder Dr. Polk noch die Hebamme von einer Giraffe wussten, die hier frei herumstreunen durfte.
Calyxa kannte Otis gut genug, um bei seinem Anblick nicht gleich in Panik zu geraten, aber sein Auftritt fiel unglücklicherweise mit den vorletzten Presswehen zusammen. Ihr Gesicht war puterrot und voller Schweißperlen, und sie schrie wild und verzweifelt: »Virez-moi cette girafe d’ici!«
Ich ging respektvoll zum Angriff über und schrie solange »Otis, weg!« und »Otis, geh!« (oder erst den Imperativ und dann den Namen), wobei ich wild mit den Armen fuchtelte, bis es Otis zu bunt wurde und er den Kopf zurückzog. Im Handumdrehen hatte ich die Läden geschlossen und verriegelt. Otis stieß noch ein-, zweimal mit der Nase gegen die Barriere, dann stellte er seine Nachforschungen angewidert ein.
»Nur eine Giraffe«, sagte ich zu Dr. Polk. »Tut mir wirklich leid.« Dabei konnte ich doch nichts dafür.
»Halten Sie die Tiere bitte zurück«, sagte er und straffte sich.
»Es gibt nur die eine hier. Sie heißt Otis, beziehungsweise ›er‹. Er wird Sie nicht mehr belästigen, Dr. Polk. Halten Sie einfach die Läden geschlossen.«
»Man sollte vielleicht ein Schild aufstellen — Vorsicht, Giraffen!«, brummte er. Dann hatte er sich wieder im Griff und erklärte mir, ich sei Vater eines Mädchens geworden.
Jene Leser, die auf eine chronologische Darstellung von Julians präsidialer Politik hoffen, mit allen Details und Mosaiksteinchen seiner Gesetzgebung, werden vom Fortgang meiner Erzählung enttäuscht sein. [97] Es liegen mehrere solche Berichte vor, von verschiedenen Autoren. Manche Texte sind um die Wahrheit bemüht, andere tragen das Prüfsiegel des Dominions.
In den Wochen zwischen Ostern und dem Unabhängigkeitstag von 2174 — so wichtig sie für die weitere Entwicklung der Exekutive auch waren — hatte ich als frischgebackener Vater viel um die Ohren und alle Hände voll zu tun.
Autoren, die sich mit Julians Amtszeit auseinandersetzen, schildern ihn meist als arroganten und unversöhnlichen Feind der Religion oder als toleranten und nachsichtigen Freund der Freiheit, je nachdem, welcher Überzeugung sie sind. Vielleicht haben beide Fraktionen bis zu einem gewissen Grade Recht, denn Julian — insbesondere als Präsident der Vereinigten Staaten — war beides.
Es stimmt, dass in seiner Amtszeit die Feindseligkeiten zwischen ihm und dem Dominion ihren Siedepunkt erreichten, mit Konsequenzen, die Historikern nicht fremd sind. Es stimmt auch, dass seine Beziehungen zu den sogenannten Freikirchen herzlich und großzügig war, untypisch für jemanden, der sich nicht gegen die Bezeichnung Agnostiker oder Atheist wehrte. Das war weniger ein politischer Widerspruch als ein charakterlicher. Julian verabscheute Macht, konnte aber nicht widerstehen, sie zu gebrauchen, wenn es um die — seiner Meinung nach — gute Sache ging. Er hatte das Zepter verachtet, aber nun hielt er es in Händen und gebrauchte es wie ein Werkzeug. Seine Vision dehnte sich aus, sein Blickfeld verengte sich.
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