Sie war außerdem ein Neuntageswunder, eine Medienblase, eine für kurze Zeit lukrative Einnahmequelle für die Neuheitenindustrie. Zehn Jahre waren vergangen, der O/BEK-Effekt, so hatte sich erwiesen, war schwer zu verstehen oder zu reproduzieren, Portia war weg und Chris' erster Versuch, Journalismus auf Buchlänge zu betreiben, eine Katastrophe gewesen. Die Wahrheit war eine schwer zu vermarktende Ware. Selbst in Crossbank, sogar in Blind Lake, hatte der selbstzerstörerische Streit über Imagestrategien und Interpretationen den wissenschaftlichen Diskurs fast vollständig überlagert. Und dennoch war er hier gelandet. Desillusioniert, desorientiert, durch den Wolf gedreht und von der Rolle, aber mit einer letzten Chance, jene Perle auszugraben und der Welt zu schenken. Eine Chance, die Schönheit und Bedeutung wieder zum Vorschein zu bringen, die ihn einst fast zu Tränen gerührt hatte.
Er blickte über die frühstücksbefleckte Plastiktischplatte hinweg auf Sebastian Vogel. »Was bedeutet dieser Laden für Sie?«
Sebastian zuckte freundlich die Achseln. »Ich bin auf die gleiche Weise hergekommen wie Sie. Habe die Anfrage von Visions East bekommen, habe mit meinem Agenten gesprochen, habe den Vertrag unterzeichnet.«
»Ja, aber ist das alles, was es für Sie persönlich ist — eine Gelegenheit, zu publizieren?«
»So würde ich es nicht sagen. Meine Gefühle in dieser Sache mögen weniger stark sein als die Elaines, aber ich bestreite nicht die Bedeutung der Arbeit, die hier geleistet wird. Jeder astronomische Fortschritt seit Kopernikus hat den Blick der Menschheit auf sich selbst und ihren Platz im Universum verändert.«
»Es sind allerdings nicht nur die Ergebnisse. Es ist der Prozess. Mit ein bisschen Geduld hätte Galilei das Prinzip, das hinter dem Teleskop steckt, fast jedem erklären können. Dagegen können selbst die Leute, die die O/BEKs bedienen, einem nicht sagen, wie sie das tun, was sie tun.«
»Sie fragen also danach, welches die größere Story ist«, sagte Sebastian, »was wir sehen oder wie wir es sehen. Das ist ein interessanter Blickpunkt. Vielleicht sollten Sie mit den Ingenieuren in der Alley sprechen. Die sind wahrscheinlich zugänglicher als die Theoretiker.«
Weil es ihnen egal ist, was ich der Welt über Galliano berichtet habe, dachte Chris. Weil sie mich nicht als einen Judas betrachten.
Jedenfalls war es eine gute Idee. Nach dem Frühstück rief er Ari Weingart an und bat ihn, ihm einen Kontakt in der Alley zu verschaffen.
»Der Chefingenieur da draußen ist Charlie Grogan. Wenn Sie möchten, setz ich mich mit ihm in Verbindung und versuche ein Treffen zu arrangieren.«
»Das wäre nett«, sagte Chris. »Irgendwas Neues wegen der Abriegelung?«
»Tut mir leid, nein.«
»Keine Erklärung?«
»Es ist ungewöhnlich, sicher, aber nein, keine Erklärung. Und Sie brauchen mir nicht zu erzählen, wie sauer die Leute sind. Wir haben jemanden in der Personalabteilung, bei dessen Frau die Wehen eingesetzt haben, kurz bevor die Tore geschlossen wurden am Freitag. Sie können sich vorstellen, wie glücklich er über die ganze Angelegenheit ist.«
Seine Situation war aber nicht völlig einzigartig. Am Nachmittag interviewte Chris drei weitere Tagesarbeiter in der Sporthalle von Blind Lake, und die waren wenig geneigt, über irgendetwas anderes zu sprechen als die Abriegelung — Familien, die sie nicht erreichen konnten, allein gelassene Haustiere, geplatzte Verabredungen. »Das Mindeste wäre doch, dass sie uns eine verdammte Audioleitung nach draußen geben«, schimpfte ein Elektriker. »Ich meine, was sollte da passieren? Dass jemand über Telefon Bomben auf uns wirft? Es gibt jetzt auch immer mehr Gerüchte, was ganz natürlich ist, wenn man keine echten Nachrichten bekommt. Da draußen könnte ein Krieg in Gang sein, und wir wüssten es nicht.«
Er konnte ihnen nur beipflichten. Eine vorübergehende Sicherheitsblockade, gut und schön. Fast eine Woche lang aber ohne jeden Informationsfluss in die eine oder andere Richtung auskommen zu müssen, das grenzte an Irrsinn. Wenn das noch lange so weiterging, musste man annehmen, dass draußen etwas wirklich Tiefgreifendes geschehen war.
Und vielleicht war es das auch. Aber das war keine Erklärung. Welche Bedrohung konnte eine Netz- oder Videoverbindung, selbst in Kriegszeiten, schon darstellen? Wozu nicht nur die gesamte Bevölkerung von Blind Lake unter Quarantäne stellen, sondern auch alle ihre Datenkanäle? Was wurde da von wem verborgen? Und vor wem?
Er hatte die Absicht, die Stunde vor dem Abendessen damit zu verbringen, seine Notizen in irgendeiner Form zu ordnen. Er begann die Möglichkeit eines fertig gestellten Artikels ernsthaft ins Auge zu fassen, vielleicht nicht unbedingt über zwanzigtausend Wörter, wie es der Vorstellung von VE entsprach, aber doch einigermaßen nahe dran. Er hatte sogar schon eine These parat: Wunder, begraben unter der Gleichgültigkeit der Menschen. Die verschlafene Kultur von UMa47/E als ferner Spiegel.
Ein Projekt wie dieses würde ihm guttun, würde vielleicht den Glauben an sich selbst ein Stück weit wieder herstellen. Oder er würde morgen neuerlich im zermürbenden Nebel des Selbstekels erwachen, im Wissen, dass er definitiv niemandem etwas vormachen konnte mit seiner Handvoll von halb transkribierten Interviews und seinen zerbrechlichen Ambitionen. Das war auch möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich.
Als er von seinem Pocket-Server aufblickte, sah er, dass Elaine auf ihn zugesteuert kam. »Chris!«
»Ich hab grad keine Zeit.«
»Da ist irgendwas am Südtor los. Dachte, das würde Sie vielleicht interessieren.«
»Worum geht's denn?«
»Was weiß ich? Irgendwas Großes kommt mit niedriger Geschwindigkeit die Straße runter. Sieht aus wie ein unbemanntes Fahrzeug. Man kann's vom Hügel hinter der Plaza aus sehen. Kann das kleine Ding, das Sie da haben, auch Videoaufnahmen machen?«
»Sicher, aber …«
»Dann bringen Sie's mit. Na los!«
Es war ein kurzer Weg vom Gemeindezentrum zur Hügelkuppe. Was immer da vorgehen mochte, es war ungewöhnlich genug, dass sich eine kleine Menschenmenge versammelt hatte, um es zu beobachten, und Chris sah auch eine ganze Reihe von Gesichtern in den Fenstern des Südturms auf der Hubble Plaza. »Haben Sie Sebastian verständigt?«
Elaine verdrehte die Augen. »Ich behalte ihn nicht ständig im Auge und ich bezweifle, dass es ihn interessiert. Es sei denn, es wäre der Heilige Geist, der dort angerollt kommt.«
Chris spähte in die Ferne.
Die gewundene Zufahrtsstraße nach Blind Lake war gut einsehbar unter einer Decke von geballten, übereinanderstürzenden Wolken. Und ja, irgendetwas näherte sich dem geschlossenen Tor von außen. Chris vermutete, dass Elaines Einschätzung wahrscheinlich zutreffend war: Es sah aus wie ein großer achtzehnrädriger, führerloser Güterlastwagen, ein Drohnenfahrzeug der Machart, wie es das Militär in der türkischen Krise vor fünf Jahren eingesetzt hatte. Es war durchgängig schwarz angemalt und nicht gekennzeichnet, jedenfalls soweit Chris aus der Entfernung ausmachen konnte. Es bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die nicht mehr als fünfundzwanzig Stundenkilometer betragen konnte — also noch etwa zehn Minuten, bis es das Tor erreichen würde.
Chris drehte ein paar Sekunden Video. Elaine sagte: »Sind Sie gut in Form? Ich will nämlich da runterjoggen und sehen, was passiert, wenn das Ding ankommt.«
»Könnte gefährlich werden«, sagte Chris. Und vor allem auch kalt. Die Temperatur war in der letzten Stunde um einige Grad gesunken, und er hatte keine Jacke dabei.
»Kaufen Sie sich 'ne Tüte Mumm«, schimpfte Elaine. »Der Laster sieht nicht aus, als wäre er mit Waffen bestückt.«
»Mag sein, aber er ist gepanzert. Irgendjemand rechnet also mit Problemen.«
Читать дальше