Ortstermin in der Budapester Markthalle, 1990, mit meinem Vater als Leiter der Forschungsexpedition. Der alte Osten ist noch sehr spürbar, die Halle etwas rostig, der Lack abgekratzt. In den Durchgängen sitzen auf großen Plastiksäcken schnauzbärtige Männer, die Besen aus Gänsefedern verkaufen. Paprikaketten hängen an den Streben der Stände. „Wie in der DDR“, schimpft meine Mutter, als sie die Käse- und Fleischstände sieht, auf deren hölzernen Arbeitsflächen relativ ungekühlt die Waren zerlegt werden. Kaum kann meine Mutter schimpfen, lässt sich mein Vater schon von der Verkäuferin ordentliche Salamiportionen absäbeln und in graues Papier wickeln. Stolz trägt er seine Beute auf dem angewinkelten Unterarm. „Mei, die sind bestimmt recht scharf“, sagt er, meine Mutter rollt mit den Augen. Dann stehen mein Vater und ich am Stand mit den Krautsalaten und eingelegten Paprika. „Yoi! “ sagt mein Vater, der ansonsten kein Ungarisch kann, zur Verkäuferin, die lacht und zeigt dabei dicke Goldzähne. Dann packt sie uns Apfelpaprika in ein Plastiktütchen, in weitere Tütchen milden Krautsalat, Kraut-Paprika-Salat und sehr scharfen Krautsalat, der „Yoi!“ macht, wie die Verkäuferin verspricht. Das ist nämlich echter Budapester Salat. „Brennt wenn es rein geht und wenn es wieder raus geht“, zitiert mein Vater stolz den von ihm geliebten Film „Ich denke oft an Piroschka“. Den Rest der zu scharfen Wurst verfüttern wir an ein streunendes Kätzchen, dass wenig später beginnt, aus dem angeschalteten Rasensprenger zu trinken. Budapester Salat mit Fleischbrät, Gürkchen und Mayonnaise? Den haben sie nicht in der Markthalle. Braucht auch keiner.
Damit endet die Geschichte längst nicht, damit beginnt sie vielmehr. Es wäre ein einfaches und kein globales Phänomen, wenn es in Budapest keinen Budapester Salat gäbe. Den echten Salat aus Budapest, den mit dem Kraut und der Paprika, gibt es natürlich auch als Variation mit Mayonnaise, aber dann kommt er, wie fast alle viel zu fetten Lebensmittel, aus den USA und heißt Cole Slaw, und nicht Amerikanischer Salat, aber im Grunde ist der Cole Slaw der Inbegriff eines amerikanischen Salates. Er besteht, außer aus Kraut, aus gestiftetem Sellerie und geriebenen Karotten. Sein Name weist auf die Herkunft des Krautsalats aus den Niederlanden hin, auf den Koolsalade. Dass die Amerikaner die Mayo dazugaben, steht außer Frage, denn vom Mayo-Gemüse-Salat distanzieren sich die Niederländer sprachlich, indem sie ihn Huzarensalade nennen, was erneut nach Budapest deutet, aber dort waren wir ja bereits.
Nächster Ortstermin in New York. Egal ob „Plaza Hotel“ am Central Park oder „Dallas BBQ Diner“, das bestellte Essen muss drei Kriterien erfüllen, um gegen die Konkurrenz bestehen zu können: Es muss übermäßig viel sein, übermäßig fett und übermäßig salzig. In den Portionen steckt der Geist der Stadt vor Nine Eleven und vor der Bankenkrise: Alles muss unvorstellbar groß sein, larger than life. Die Stadt muss sogar noch in der Imbissbude ihrem Ruf als gelobtes Land gerecht werden. Wer dort nicht die Hälfte vom Essen zurückgehen lässt, ist ein armer Schlucker, der wohl eben erst angekommen ist. Natürlich muss in dieser Stadt auch der Krautsalat, den die Einwanderer mitbrachten, Überlebensgröße annehmen, also wird er mit Mayo übergossen, um eine schätzungsweise zehnfache Reichhaltigkeit zu erreichen.
Den Gemüsesalat mit Mayo, ebenfalls von Einwanderern nach Amerika gebracht, hat man Ende des 19. Jahrhunderts im New Yorker Hotel „Waldorf-Astoria“ zur Delikatesse veredelt. Um sich von den Diners abzuheben sind die Sellerie- und Apfelstreifen im „Waldorf Astoria“ einzeln mit Mayonnaisedressing ummantelt und dann im Blockhausstil zu einem geschmacklichen Fort Knox aufgeschlichtet, aus dessen Mitte ein Salatblatt als grüne Fahne winkt, etwas beruhigt von einem Hauch Trüffel. Die Walnüsse sitzen wie Angreifer um das handgeschichtete Gemüsefort herum. Sehr hübsch. Als Pampf aus Sellerie, gehackten Nüssen, Äpfeln und Trauben, manchmal auch Karotten, hat der Waldorfsalat als Rückwanderer in Europas Feinkosttheken dennoch seinen Platz neben Fleischsalat und Cole Slaw eingenommen. Wo diese drei beisammen sind, ist meistens ein vierter im Bunde: der Italienische Salat, ein Traum aus Blumenkohl, Erbsen und anderem Kleingemüse und ... Mayonnaise! Können gar die Italiener schuld sein an dem Salat-Übel?
Ortstermin bei „Esselunga“, einer Kette italienischer Supermärkte, die sich wacker gegen die französische „Hypermarche“-Invasion stemmt. Bei „Esselunga“ warten Scamorza-Bälle, Wagenrad-Mortadella und Parmaschinken am Stück auf die Großeinkäufe der Großfamilien. Die Auswahl an Fertigsalaten ist eher übersichtlich, man schneidet die Pomodori, die Cucumbari, die Finocci und natürlich Rucola und Lattuga am liebsten frisch auf, gibt Essig und Öl dazu, basta. Das schafft jede und jeder. Fertig gekauft werden Antipasti in Öl, Oliven, Pilze, Zucchini, Mini-Tintenfische, dazu noch gebratene Auberginen, Kartoffelkroketten, Fleischbällchen, gebratene Krevetten, oder alles durcheinander. Einen einzigen Traum in Weiß halten die Italiener dennoch in der Kühltheke bereit, es ist der alte Bekannte aus verschiedenen Gemüsen, und um sich nicht nur farblich von den mediterranen Leckereien abzuheben, nennen ihn die Italiener Insalata Russa. Bei den Vorspeisen zeigen die Mittelmeerländer Solidarität: In Frankreichs FrischeparadiesSupermarkt „Leclerc“ steht die Schale mit dem Salade Russe nahe den feinen Fleischpasteten. Ensaladilla Rusa sagen die Spanier, „Rus Salatasi“ die Türken. Im Esselunga-Russensalat stecken Kartoffeln, Erbsen, Karotten und Paprika. Die fettige Spur führt also nach Osteuropa.
Den Russen etwas zur Last zu legen ist allerdings eine spezielle Eigenart des Westens. Wenn es ein einziges Mal nicht gelingt, Amerikaner oder Niederländer für fettiges, ungesundes, aber leider trotzdem leckeres Essen verantwortlich zu machen, dann müssen eigentlich die Russen als Traditionsbösewichte oder ihre Verbündeten, die Husaren oder die Budapester, dafür herhalten. Die Urheberschaft für Russische Eier, noch so ein verführerischer Alptraum mit Mayo, hat man ihnen schon erfolgreich nachgewiesen. Irgendwie scheint lieblos präsentierter, sättigender Industrie-Stampf zum Ostblock zu passen. „Wie in der DDR“, höre ich im Geist meine Mutter sagen.
Erster Ortstermin im polnischen Supermarkt „Piotr i Pawel“, der den eingereisten französischen „Hypermarchés“ trotzig Konkurrenz macht. Da sitzt im edel beleuchteten Kühlregal: Salatka wloska z brokulami der Firma Lisner, die mir gleich auf dem Deckel „Dobrze Smak!“ verspricht, also leckerlecker. Wloska heißt italienisch. Auf eigenes ist man in Polen tendenziell stolz: Aus Krakau kommen Krakauer Würste. Mit einem Plastiklöffel streiche ich Salatka Wloska auf ein Vollkornbrot. Ein Traum von einem Picknick, Broccoli, Mais, Ei und Apfel in säuerlicher Tunke. Andererseits zeigen die Polen beim Mayonnaisesalat allzu gerne mit dem Finger auf andere Länder. Salat mit Fisch, Karotten und Paprika -Salatka Balkanska. Salat mit Fisch, Gurke, Apfel und Pilzen -Salatka Tatarska. Dabei hätten gerade die Polen allerlei Grund, die Russen oder auch die Deutschen schlimmer Dinge zu bezichtigen, nicht aber die Italiener. Es mag an der Isolation Polens gelegen haben, wie der Salatka Wloska zu seinem Namen kam. Er ist der Toast Hawaii Polens, denke ich, während der Ostseewind Sand in das halbleere Plastikschälchen weht. Wie sollte man zur Zeit des eisernen Vorhangs Italien schmecken? Salatka Wloska ist in Polen schließlich auch ein Nudelsalat und der gemischte Salat mit Essig-Öl-Dressing. Salatka Wloska ist ein Sehnsuchtswort, keine Beschuldigung. Nach Russland hatte man keine Sehnsucht, aber die Spur führt dennoch weiter nach Osten.
Ortstermin in Tschechien. Hier haben sich nicht die französischen, sondern vor allem eine britische Supermarktkette breit gemacht. In diesem stehen schüsselweise Mayonnaisesalate. Wer zu faul ist, nach deren Inhalt zu fragen, kann auch einen der bereits fertig in Schälchen abgepackten greifen. Die offensichtlich beliebteste Sorte ist der Parizsky Salat, denn hiervon stehen mit Abstand die meisten Schälchen bereit. Er besteht aus Fleischwurst, Gürkchen und Co., ist also identisch mit dem deutschen Fleischsalat, weist aber auf Frankreich. Das mag am britischen Supermarkt liegen, der den Salat unter seiner Eigenmarke verkauft, denn die Briten trauen den Franzosen jegliche Geschmacksverirrung zu. Im kleinen tschechischen Supermarkt hingegen heißt die Kreation aus Fleischwurst, Kartoffelwürfeln, Erbsen und Karotten wieder wie erwartet Vlassky Salat, also italienischer Salat. Nicht nur in der Sprache, auch in der melancholischen Sehnsucht ähneln sich Polen und Tschechen, und in der Tendenz, sich nicht mehr an Russland, sondern am Westen zu orientieren.
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