Wiener reagieren mit giftigem Schmäh, wenn das Schnitzel nicht den Abortdeckel- und Futlapperl-Kriterien entspricht oder wenn sich unter der Panade gar Schweinefleisch statt eines aus der Schale geschnittenen Kalbsschnitzels einschleicht. Das heißt dann nämlich Schweinsschnitzel gebacken. „Geh’ bitte, heeeaaaans“, wo käme man denn da hin, wenn man das verwechselte. Variationsmöglichkeiten werden konsequent ausgeschlossen, auch bei der Original-Sachertorte, um deren Originalität, Ursprung und Nomenklatur erbitterte Kleinkriege und Rechtsstreite geführt wurden, denn auch da muss Ordnung sein, man ist ja schließlich nicht in Italien. Man achtet auf Tradition und Geschichte, ehrt seine historischen Helden mit Märschen und Torten wie der Eszterhazy-Schnitte oder eben dem Radetzky-Marsch.
Was in Wien erfunden oder kultiviert und damit zu einzigartiger Blüte geführt wurde, wird auch in Wien reglementiert, sonst wäre es ja nicht mehr wienerisch. Damit scheint klar zu sein, dass das Wiener Würstel gar keine Wiener Erfindung gewesen sein kann, sondern von irgend jemand anderem den Wiener Stempel aufgedrückt bekommen hat. Deshalb distanzieren sich die Wiener vom Wienerle genauso wie von Schokoladentorten, die irgendeine Piefke-Hausfrau aus Niedersachsen zusammengerührt hat, denn die würde in Wien ja auch niemand OriginalSachertorte nennen - auch nicht nennen dürfen.
Ausgerechnet ein Piefke soll aber das Wiener Würstchen erfunden haben, so sagt eine in Deutschland gepflegte Legende. Danach schipperte der fränkische Metzger Johann Georg Lahner um 1800 auf der Suche nach neuen Ufern die Donau hinunter und blieb in Wien hängen. Im Gepäck hatte er das uralte, wohl noch aus dem Mittelalter überlieferte Rezept für Frankfurter Würstchen, einer groben Schweinewurst, die er in der Lehre in Frankfurt am Main kennen gelernt hatte. In Wien, wo es zu der Zeit zwar schon Sachertorte, aber noch kein Wiener Schnitzel gab, man aber stets hungrig war auf Extravaganzen, perfektionierte er sein Rezept: Er mischte Schweine- und Rindfleisch und drehte es so lange durch, bis er ganz feines Brät hatte, das er in ebenso feine Schafsdärme füllte, brühte und zart räucherte. Seine Frankfurter, verkauft im bis heute bürgerlichen Wiener Viertel Josephstadt, waren der Renner: bei Bürgern, bei Hof und in den Salons der Künstler. Das ist keine Legende mehr. Johann Nestroy, Franz Schubert, Johann Strauß, Adalbert Stifter, sie alle ließen sich das Würstel schmecken, während sie ihren Zeitgenossen künstlerische Denkmäler setzten, ihnen Ehrenmärsche komponierten oder auch mit Bosheit und Schmäh auf die Wiener Seele blickten, die gar nicht so lieb und herzig ist, wie sie tut.
Kaiser Franz Joseph I. soll das Würstel zu seiner Leibspeise erklärt haben. Obwohl das wahrscheinlich wieder eine Legende ist, zeigt es, dass die Wiener mit dem Würstel an sich gar kein Problem hatten. Kaisers liebstes kleines Gabelfrühstück reiste zu Weltausstellungen nach Paris und Chicago und weil auch dort jeder das Würstel aus Wien liebte, brühten und räucherten bald Metzgereien rund um die Welt Plagiate der Wiener Würstel. Die Österreicher und insbesondere die Wiener blieben aber stur beim Frankfurter, was schon allein deshalb seltsam ist, weil das erst importierte, aber dann vor Ort perfektionierte Schnitzel ja auch Wiener Schnitzel heißt. Und was erst recht seltsam ist, weil das Würstchen ja nicht einmal importiert, sondern tatsächlich erst in Wien erfunden wurde. Denn in Frankfurt war es verboten gewesen, Schweine- und Kalbfleisch zusammen in einen Darm zu stecken, ebenso wie sich in die Panade des Wiener Schnitzels kein Schwein einrollen darf. Daran, dass Lahner ein Piefke war, kann es auch nicht gelegen haben, denn der erhielt das Wiener Bürgerrecht und wurde gar am Zentralfriedhof begraben.
Mit Tradition und Geschichte, mit dem Kaiser gar, lässt sich das Würstel in Verbindung bringen. Da müssten die Metzger doch eigentlich Prozesse und erbitterte Kleinkriege darum führen, wer das Original-Wiener-Würstel anbieten darf. Aber es regt sich nicht einmal Widerspruch dagegen, dass das Kaff Gasseldorf bei Ebermannstadt in der fränkischen Schweiz, das Lahner schon als junger Mann wurst- und grußlos verlassen hatte, sich als Ursprungsort des „Wienerla“ feiert, Lahner ein Denkmal errichtete und sich gar beim Deutschen Patentamt das Urheberrecht auf das „Wienerla“ eintragen ließ - Patent Nummer 304 291 27. Das müsste die Wiener Seele eigentlich so quälen, als würde man im ostdeutschen Radeberg ein Radetzky-Denkmal aufstellen und sich als Heimat des Wiener Schnitzels ausgeben. Von dem Geschäft, das sich die Wiener da entgehen lassen, ganz zu schweigen.
Das Wiener Würstel wurde sowohl in Wien erfunden als auch in Wien kultiviert. Analog zu anderen Wiener Spezialitäten müsste es also den Namen der Donaumetropole tragen. Doch das Wiener Würstel heißt in Wien weiterhin konsequent und trotzig Frankfurter, oder bestenfalls eben Würstel, vorzugsweise in der Kombination Würstel mit Saft. Das ist ein Paar Wiener in einem Teller voller scharfer Gulaschsauce, ein klassisches Restessen, das in keinem Beisl, also keiner Vorstadtkneipe fehlen darf. Wer noch weniger ausgeben will, steht am Würstelstand, und wählt außer zwischen Eitrigen und Frankfurtern noch zwischen stark geräucherter Waldvierteler, der kräftig gewürzten, groben Bosna-Bratwurst, der scharfen ungarischen Debreziner und der Burenwurst, einer groben, dicken, sehr würzigen Variante, die es gebraten und in Wasser erwärmt gibt. Alle diese Würste sind nach Orten außerhalb Wiens benannt, obwohl in Wien der Würstelstand kultiviert wurde: in Kriegszeiten, als kaum jemand Geld hatte, im Lokal ein Kalbsschnitzel zu essen und stattdessen im Stehen Schmäh führte wegen der schlechten Zeiten und wegen des Schmähführens an sich. So wuchsen rund um die Würstelstände finstere Anti-Kosmen zur hell erleuchteten Welt der Restaurants:. Hier Schnitzel, dort Burenwurst. Hier Stolz, dort Verachtung. Hier „Küss die Hand“, dort „Leck mich am Arsch“. Hier zarte Futlapperl - dort derbe „Burenheidl“ (Buren(vor)häutchen), wie die Burenwurst im Standl-Code heißt. „Ihr Hurenbeitl, kaufts Burenheidl!“, ein legendärer Schmäh, um das männliche Pendant zum Schnitzel unters Volk zubringen. Und da haben wir’s: Es ist der eigene Schmäh, der den Wienern das Wiener Würstel verleidet. Am Wiener Würstel möchte nie-mand gemessen werden. Erst recht nicht, wenn es gerne im Saft kommt. Die Ehre, ein Frankfurter Würstchen zu sein, überlässt man „sehr gern“ den Piefken, in stillschweigender Übereinkunft, ohne Diskussion. Wie schade nur für die Wiener und ihre seit Jahrhunderten kultivierte Gemeinheit, dass das heute nur denjenigen auffällt, die sich sehr lange, sehr intensiv und jenseits aller Schmerzgrenzen dem Schmäh aussetzen.
Wie ein Dorf auf den Hund kam
Niemals, niemals darf eine Reisereportage mit der Schilderung der Fahrt vom Flughafen in die Stadt beginnen. Nur wenige Orte auf der Welt rechtfertigen einen Einstieg mit der Anreise. Entweder weil es UnOrte sind, an denen man nie wirklich ankommen kann und daher von ihnen auch nichts zu berichten hat (wie etwa die englische Stadt Swindon, deren einzige Merkwürdigkeit ein komplexer Kreisverkehr ist) oder weil es die Anreise als solche ist, die das Wesen des Ortes bestimmt. Die erste Kategorie ist so häufig, dass es nicht wert ist, über die einzelnen Orte zu berichten.
Die zweite Kategorie ist so selten, dass es verwunderlich ist, wie wenige Reportagen über diese Orte geschrieben werden. Es mag daran liegen, dass die Reise im Vordergrund steht und nicht das Innehalten am Ort selbst. San Bernardino in der Schweiz ist so ein Fall. Sie fahren und fahren, vermutlich schon eine ganze Weile, wenn Sie dort ankommen, und haben dann auch noch einen weiten Weg vor sich bis zu ihrem eigentlichen Ziel. Dann ist San Bernardino nur ein Punkt auf der Route nach Italien oder Südfrankreich. Schon kurz nach der Grenze zu Österreich ist San Bernardino als Grobrichtung angezeigt, aber bis dahin passieren Sie noch die Ausfahrten nach Vaduz, ins Heididorf, nach Thusis, und sehen Glamouröses verheißende Wegweiser nach Davos und St. Moritz. Während Sie auf eine Wand aus Bergen zufahren, deren Spitzen auch im Sommer schneebedeckt sind, wird die Straße, die eigentlich als Autobahn in der Karte eingezeichnet ist, immer kleiner und windiger. Schließlich kringelt sie sich steil, kurvig und einspurig das Gebirge hinauf. Wenn Sie Glück haben, ist nur ein Wohnmobil vor ihnen oder ein Milchtransporter. Wenn Sie Pech haben, ist es ein überbreiter Schwertransport, der eine Caterpillar-Raupe geladen hat und damit aus unerfindlichen Gründen über die Alpen will. Mit gemächlichen fünfzig Stundenkilometern örgelt der dann vor Ihnen die Straße hinauf, und Sie haben sehr, sehr viel Zeit und Muße, in die Schluchten zu blicken, auch im Hochsommer nach Schneefetzen in der Landschaft Ausschau zu halten, die Staumauer eines Sees zu bewundern und eigenartige BetonTürme, die irgendjemand in dieser Höhe gebaut hat. Kurz vor dem Tunnel können Sie überlegen, ob sie lieber über den Pass fahren, aber das macht dann natürlich doch niemand. Im Tunnel selbst darf man ohnehin nur achtzig fahren, was machen da noch ein Huckepack-Caterpillar oder ein Wohnmobil.
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