Am Pier von Intra hallt es wieder in mir, während ich die Autofähre heranrauschen sehe, die schwangere Frau im schicken grauen Kostüm an mir vorbeigeht und das alte Pärchen mit dem kleinen Hund an der Leine. Warum. Warum hat er mich nicht ausgesucht. Warum nur wollte er nicht mitkommen. Über mir nicken die blütenschweren Zweige. Allein reisen ist etwas Großartiges, wenn man neue Erlebnisse sucht, denn man nimmt die Umgebung viel wacher wahr als in Begleitung. Man sieht jedes Detail, wie in Intra das Mahnmal für den Partisanen Lollo, der 1944 im heldenhaften Kampf gegen die Faschisten gefallen ist, vor dem ein Topfpflänzchen steht, das mit einer Schleife in den italienischen Nationalfarben verziert ist. Allein reisen mit einer Beziehungsenttäuschung im Bauch ist aber etwas völlig anderes, da ist jeder Eindruck eine Ohrfeige, jedes Funkeln auf dem Wasser ein spöttischer Kommentar zur eigenen Situation, nichts ist Zufall, alles ist ein Plan des Universums, um mir meine eigene Minderwertigkeit bewusst zu machen. Wenn ich jetzt sofort hier sterbe, niemand wird mir ein Mahnmal errichten. Weil ich einfach allein hier war, ohne Sinn, ohne Grund. Warum. Warum. Weil er mich nicht mochte. Weil er einfach nicht mit mir hierher kommen wollte, so entzückend, so schön, so malerisch der Lago Maggiore zur Kirschblüte auch ist. Weil er vielleicht ein Dorf weiter mit der anderen unter einem blühenden Baum auf der Bank sitzt. Dabei ging es weniger um ihn speziell, sondern darum, nicht allein zu sein, also um mich. Und jetzt das.
Dass ich auf einer Reise eine Enttäuschung durch Erlebnisse überwinden kann, weiß ich von früheren Katastrophen. Da habe ich aber dann tagelang alle Museen, Kirchen und sonstigen Sehenswürdigkeiten von Dublin besichtigt, abends in Kneipen Bier getrunken und mit Fremden getanzt, in der Londoner Oxford Street mehr Schuhe gekauft, als ich tragen konnte oder alle schwarzen Abfahrten eines Skigebiets ausprobiert. An einem Ort aber, wo es nichts zu tun und zu besichtigen gibt, sondern die Stimmung das ist, weswegen die begleiteten Menschen kommen, funktioniert das nicht. Niemals, niemals sollte man alleine dorthin fahren, wo andere Menschen romantische Wochenenden verbringen. Diese Orte sind Vergrößerungsspiegel des eigenen Befindens, deshalb gelten sie als romantisch. Wer aber kein gutes Gefühl mitbringt, wird auch dort keines finden, sondern sich von einer Enttäuschung in ein Drama hineinsteigern.
Wenigstens für die Leute zu Hause will ich etwas Schönes mitbringen, also halte ich an einem Riesen-Supermarkt. Da tobt der italienische Wochenend-Einkauf, werden fachmännisch zig verschiedene Oster-Colombas verglichen, papierdünne Schinkenblätter Lage für Lage zu buchdicken Familienpaketen gepackt, Aranciata im Großgebinde in die Wagen gehievt. Auch mein Wagen füllt sich mit Spezialitäten und für mich suche ich Trostessen, Schokolade nämlich. Das Süßigkeitenregal ist kaum halb so groß wie das für die Pasta, die Auswahl wie überall in Italien kläglich. Ganz unten, in einer Ecke und gut versteckt entdecke ich sie dann aber, die perfekte KummerSüßigkeit: Mon Chéri. Schokolade, Alkohol und eine Kirsche. Ja, ausgerechnet die Piemont-Kirsche, die hier so garstig romantisch blüht. Die Kirsche, zu der die magersüchtige Zicke aus der Werbung immer hinfährt. Nicht jede Kirsche kann eine Piemont-Kirsche sein, nicht jede ist süß und saftig genug. Genau wie ich. Der einen ist’s gegeben, der anderen nicht. Dabei weiß doch jeder, dass das mit der Piemont-Kirsche bloß Werbe-Blödsinn ist, bestimmt erfunden von denen, die bei der Kirschblüte im Piemont eben nicht allein waren. Als Marke geschützt für den Industriepralinenhersteller, der EU aber als Herkunftsbezeichnung nicht geläufig. Eine Illusion: Wo Romantiker hinfahren, sind am Ende sogar die Kirschen süßer und dicker als anderswo.
Auf der italienischen Schachtel aber steht es nüchtern schwarz auf rot: Praline aus Zartbitterschokolade mit Kirschen und Likör. Den Einheimischen können sie den Quatsch mit der besonders süßen und saftigen Piemont-Kirsche sowieso nicht verkaufen. Die wissen, dass hier die Kirschen auch nicht anders sind als anderswo. Dass die Dörfer auch nur Dörfer sind, der See einfach ein See und in den Geschäften auch nur Waren liegen, die es in jeder anderen Kleinstadt auch gibt. Ich kaufe die Schachtel und esse schon auf dem Parkplatz die erste Praline. Super Süßigkeit. Piemont und seine Kirschblüten? Sind völlig überschätzt und können mir, nach einer Schachtel Mon Chéri, gestohlen bleiben.