Kaum biegt man aus den Geschäftsstraßen um die Ecke, ist man auf dem Dorf. Da hat ein Malermeister sein Wohnhaus mit einem Sinnspruch geschmückt, der auch ein Stickbild zieren könnte: „Aus Tauf-, Hochzeits- und Grabgeläut mischt sich der Klang des Lebens. Woher Wohin Wozu? Du fragst vergebens!“ Kinder spielen mit einem jungen Berner Sennenhund. Jugendliche bespritzen sich kreischend mit Wasser aus einem Brunnen. Vor der Nydegg-Kirche, in einem Quartier, in dem sich mittelalterliche Fachwerkhäuser ducken, sitzen Alte unter einem Baum und blinzeln in die Sonne. Bern ist ein Schatzkästchen, in dem sich Diamanten und Gold mit Modeschmuck mischen. Dazwischen wirkt sogar das ein oder andere Stückchen Schrott wie eine kleine Perle. Dazu gehören Lokale, die ihre laminierte und mit Bildern verzierten Speisekarten gleich auch auf Japanisch ausgehängt haben. Da gibt es auch mitten im Sommer Fondue zu essen und Berner Rösti und Militärschnitte, ein frittiertes Grauen aus Käse, Ei und Schwarzbrot. Oder Älplermaccaroni, Nudeln mit viel Käse, Speck und Apfelmus. Und es ist die Berner Platte im Angebot, wahlweise Berner Teller: Ein Berg Sauerkraut, darauf Wellfleisch, Zungenwurst, Rippchen, Wienerli. Dies bestellen eher die lebenserfahrenen Gäste aus Ostdeutschland.
Aber sogar diese werden, beseelt von Fleischbergen, Kraut oder Rösti mit Speck, die Bilder von der Zytglogge in Kopf und Kamera, begeistert nach Hause fahren und berichten, was für eine Wundertruhe Bern doch ist. Sie werden es nicht bis in Viertel wie Wankdorf oder Ostermundigen schaffen, wo Bern zeigt, dass das wahre Leben eben doch kein Schatzkästchen ist, sondern eher eine Schuhschachtel. Aus den Vierteln der Blocks, Silos und Häuslebauerhäuschen juckelt man als Durchschnittsberner morgens mit der Trambahn in andere Vororte und kauft abends im Supermarkt ein. Etwa bei „Migros“ in Wankdorf, im Erdgeschoss eines Hochhauses gelegen, das auch in einer der berüchtigten Pariser Banlieues stehen könnte. Fleckiger Betonboden, fahles, gelbliches Licht, kleines Sortiment. Hier ist wenig Bündner Fleisch im Wurstregal, dafür viel Schinken, und Berner Platte, fertig zusammengestellt, im Plastikbeutel. Man kauft Abgepacktes, auch bei den Würsten, und siehe da: Dort liegt in der kleinen Grillgutauswahl, direkt neben der Berner Zungenwurst, Schützenwurst, gefüllt von der Firma „Grill mi“. Das ist in etwa das, was man in Süddeutschland als Dicke kennt, gespalten und mit groben Käsestückchen gestopft, mit Speck umwickelt. Sieht ein wenig aus wie ein Berner Würstchen, nur größer. Und das Kalbs-Cipollata, das papierblasse, sogar in der Plastikverpackung wabbelige Mini-Würstchen, ebenfalls mit Speck umwickelt. Im höherpreisigen Segment bieten sich unter dem Sonnenstrahlen-Logo „Aus der Region“ an: Original Emmentalerli, grobe gekochte Würstchen aus Rindfleisch, Schweinefleisch, Speck, Schwarten, E450, E452 und anderen hochwertigen Zutaten. Aber das Foto vom Emmental sieht verlockend aus. Und: Bernerli, „zum kalt oder warm essen“. Geräucherte und gekochte Würstchen aus Schweinefleisch, Speck, Mononatriumglutamat, E 301 und anderen Spezialitäten. „Hergestellt in der Schweiz aus Schweizer Fleisch“ und „Ächts aus em Bärnbiet“ steht auf der Packung, ein kleiner Berner Bär ist oben drauf und eine Kulisse aus Schneebergen.
Von „Migros“ in Wankdorf einmal um die Ecke gebogen Richtung Messegelände sieht die Welt schon anders aus. Im Komplex des „Stadion de Suisse“, einem der Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft, ist ein Einkaufszentrum untergebracht, darin die wahrscheinlich beste und größte Filiale der allgegenwärtigen Schweizer Supermarktkette „Coop“ im Berner Land. Hierhin fahren die saturierten jungen Familien im Skoda Oktavia zum Wochenendeinkauf. Das Schokoladenregal ist mindestens so lang wie das Wurstregal. Das Bündner Fleisch hat ein eigenes Regal, da es in vielen Sorten und Packungsgrößen daherkommt. Allerlei Grillgut liegt bereit, auch Monster-Wurtschnecken, dicke weiße Kalbsbratwürste, von der Firma „Bell Barbecue“: Cervelas gefüllt (Dicke mit Käsebrocken, umwickelt mit Speck), Bernerli mit Käse, bei denen man aber den Käse nicht sehen kann, die aber aussehen wie Wienerle mit Speck umhüllt. „Bell“ ist eine Wurstwarenfabrik, die die ganze Schweiz beliefert, und ihre Bernerli sehen gar nicht so aus wie die Bernerli von der Konkurrenz oder die Berner Würstchen vom Münchner Flaucher. Keine von allen ist in gegrilltem Zustand in der Berner Altstadt anzutreffen.
Die dicken weißen Bratwürste bietet auch ein netter älterer Herr auf dem Wochenmarkt am Bärenplatz an, schon fertig gebraten. Wer die nicht leiden mag, kann auch zypriotischen Haloumi-Käse vom Grill haben, israelische Falafel, Knobibrot oder einen Hotdog. Nebenan am Käsestand schreibt der Kollege „Walliser Wurst“ an, eine Art Salami mit Edelschimmel, wahlweise mit oder ohne Knoblauch. Der Asia-Mann hält Gemüseröllchen vor, die Asia-Frau gebackene Bananen, der Mexikaner frische Tacos. Berner Würstchen? Haben sie nicht. Hier ist reserviert für leckere Sachen aus der Region, und zur Region gehören hier auch, mit Nonchalance hingenommen, die Einwanderer.
Viel ist zu sehen in Bern, viel zu erleben, zu bestaunen und zu genießen, aber nichts deutet darauf hin, dass hier das Berner Würstchen erfunden wurde. E-Mail-Nachfrage beim Ausbildungszentrum für die Schweizer Fleischwirtschaft. Die Antwort kommt postwendend von einem gewissen Felix: „Sie haben Glück, dass Ihr E-Mail bis zu mir gekommen ist, habe ich doch vor ca. 15 Jahren am ,Bernerli mit Käse‘ in der Entwicklung mitgearbeitet. Dieses Würstchen ist aber nicht mit Bauchspeck umwickelt, wie die von Ihnen bekannten Berner Würstchen. Auch werden diese ,Bernerli mit Käse‘ nur von einer Firma in Bern als regionale Spezialität hergestellt. Verkauft werden sie in einzelnen Privat-Metzgereien, sowie in den Migros Filialen (leider nicht in allen). Dass es in Deutschland und auch in Österreich (ich habe sie letzten Sommer in Linz gegessen) diese Berner Würstchen gibt und ebenfalls etwas Ähnliches in der Schweiz, ist wohl eher Zufall. Der Kreativität der Fleischfachleute im deutschsprachigen Raum sind eben keine Grenzen gesetzt. Ich hoffe, Ihnen mit meinen Ausführungen gedient zu haben.“
Dass eine Schweizer Konkurrenzfirma nun das deutsche Produkt kopiert hat und den Schweizer Grillern schmackhaft machen will, ist dem tapferen Mann bisher noch entgangen.
Die Industrie scheint allerdings sehr darauf erpicht, das Berner Würstchen an den Mann zu bringen; eine Marktlücke aufzustemmen, wo vorher gar keine war, um sie mit Käse- Speck-Grillern zu füllen. Wie bei jedem Produkt verkauft man in volle Kühlschränke und braucht dafür gute Argumente. Fettarmut und Gesundheit können es in diesem Fall nicht sein; statt dessen versucht man, dem Produkt eine Tradition anzudichten, die es nicht hat, und eine regionale Verortung zu verpassen, die sich ungeschickterweise vor Ort noch nicht herumgesprochen hat. Jedenfalls nicht bis zu den Berner Gastwirten. Dabei schmecken sie gar nicht mal schlecht, die Bernerli aus dem Ausbildungszentrum, wie eine Kreuzung aus Debreciner und Salami. Sie sind wirklich eine prima Brotzeitwurst.
Den Berner Wurststreit darf ein berufener Experte beenden. Der heißt Pablo und sitzt tagaus tagein als Wappentier im Bärengraben. Wenn Pablo alles fressen würde, was da hineinfiele, wäre sein Leben kein Spaß mehr, also prüft er wählerisch die Beute. Mit einem „Pflupp“ landet ein Bernerli in seiner Sichtweite. Pablo liegt gerade gemütlich auf dem Bauch, sieht das Würstchen, rührt sich erstmal nicht. Oben an der Steinbrüstung hängen kichernd die Touristen. Pablos Bärennase kräuselt sich. Er hebt den Kopf und angelt das Würstchen mit der Tatze heran. Einmal, zweimal beißt er davon ab, kaut gründlich, hebt den Oberkörper, blickt mit bernsteinfarbenen Augen nach oben. „Pflupp“, noch ein Würstel. Das schmeckt ihm. Und jetzt zum Vergleich - ein Emmentalerli. Gleiche Prozedur. Pablo ist zufrieden. Noch ein Emmentalerli. „Pflupp.“ Dann endet der Wurstregen, Pablo legt sich wieder auf den Bauch, und schnuppert noch lange an der Stelle im Sand, wo der überraschende Segen niedergegangen ist.
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