Wegen der andauernden Not schickten wir, seit ich denken kann, den Freunden und Verwandten meiner Mutter Pakete in die DDR. Dallmayr Kaffe war da drin, Paradiescreme-Pulver, Dr. Oetker Pudding, Milka-Schokolade und allerlei anderes. Wir schickten auch T-Shirts, Kettengürtel und Strickpullover aus Glitzergarn, die es allesamt günstig im Schlussverkauf oder auf dem Markt gab, in die DDR. Weil es dort einfach gar nichts gab, sagte meine Mutter. Dafür hatte ich - wie exotisch - in der Grundschule eine Brieffreundin aus Schwerin, was sonst niemand hatte. Und zu sagen „Meine Mutter kommt aus der DDR“ war viel exotischer als zu sagen, „meine Mutter kommt aus Italien“.
Was ich nicht verriet war, was aus der DDR als Dankeschön in Weihnachts- und Geburtstagspaketen zu uns zurück kam. Schallplatten mit Covern aus grauem Pappdeckel, grob und in Erdtönen bedruckt. Für mich mit Märchengeschichten, für meine Eltern mit klassischer Musik. Echte Kunstwerke und Lithografien von echten Künstlern, in grauem Papier eingewickelt. Bücher mit russischen Märchen. Oder Sagen aus Mecklenburg. Ein bisschen peinlich, damals. Aber ich habe die Kunstwerke und einige Bücher „von drüben“ bis heute. Meine Ausgabe der „Schatzinsel“. Oder Sigmund Jähns Band über seinen Weltraumflug als Kosmonaut der DDR, aus dem Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, mit einem Klappentext von Erich Honecker. Ein echter Schatz.
Dass die Gemüsemischung „Leipziger Allerlei“ nach einer Stadt in eben dieser DDR benannt war, war mir als Kind erst gar nicht klar, ebenso wenig, wie ich bei der Bohnensuppe an Serbien dachte. Das Fertiggemüse schmeckte nicht besonders gut oder hochwertig, sondern nach Verpackung und zweiter Wahl, über die man sich aber aus Rücksicht nicht beklagen wollte. Spargel, Erbsen, Karotten, tiefgefroren oder aus der Dose. Sie begegneten mir als Beilage zu in der Pfanne kurzgebratenem Kotelett oder einem vergleichbarem Fleischbatzen. Als Kind war ich keine Freundin von Spargel oder Erbsen, aber ein großer Fan des Gemüseeintopfs meiner Mecklenburger Großmutter, der vor allem aus frischen Möhren, Kartoffeln und Petersilie bestand.
Die Geschichten aus dem fernen, sozialistischen Ausland, die meine Mutter erzählte, waren dagegen wirklich exotisch, und sie faszinierten mich so, wie die Erzählungen meines Kumpels Bakur Abdulaziz über seine Kindheit in Saudi-Arabien, aktuell eines der ganz, ganz, ganz wenigen Länder auf der Welt, in denen kein Krieg herrscht, in die man als Tourist aber trotzdem nicht einfach einreisen darf. In der internationalen Wahrnehmung heute also ein bisschen so wie die DDR in den 80er Jahren, nur vergoldet und mit Diamanten besetzt. Meine Mutter erzählte davon, wie sie und ihre Cousins Wolfgang, Jochen, Gitti und Renate Stachelbeeren von den Stauden des Nachbarn klauten, im Baum saßen und Kirschkerne spuckten, in den Stockbetten im Kinderzimmer der Großfamilie die Nächte durchmachten, oder wie sie im Pfaffenteich schwammen. Ich habe da nicht recht verstanden, was so schlimm daran gewesen war, in der DDR zu leben. Auch die Lieder, die meine Mutter und meine Großmutter mir beibrachten und mir gleichzeitig sagten, ich solle sie draußen nicht wirklich singen, waren nicht schlecht. „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“ Konnte ich schon im Kindergarten. Auch den Gruß: „Pioniere - seid bereit! - Allzeit bereit!“, dazu die Hand an die Stirn. Das konnte sonst niemand. Auch nicht Plattdeutsch singen: „Wenn hie ’n Pott mir Bohnen stet und do ’n Pott mit Brie, na lass ick Pott un’ Bohnen steen und tanz mit mie Marie. Wenn mie Marie nit tanzen ka, na hett se scheefe Been, na treck ick ihr ’n lang Kleedrock an, na is dat nit zu seen.“ Damit konnte man in der Grundschule mehr Eindruck schinden als mit griechischen Volksliedern.
Wie ich als Jugendliche darauf kam, dass alle Ossis hässlich, doof, rückständig, lebensuntüchtig, erbärmlich und Mitleid erregend sind, weiß ich selbst nicht mehr. Vielleicht lag es an dem überschwänglichen Dankesbrief, den wir bekamen, nachdem wir bei „Candy and Company“ eine sehr, sehr billige Digitaluhr - mit der man sich nicht mal in Bayern hätte blicken lassen können - in eine Konservendose voller Marshmallows hatten einschweißen lassen und diese in die DDR schickten. Vielleicht lag es daran, dass mir aufging, dass wir sehr hochwertige Geschenke bekamen (echte Lithographien von echten Künstlern), während wir die Lebensmittel „für die DDR“, die wir in Pakete packten, in dem ungepflegten Discounter kauften, in den meine Mutter sonst eher ungern ging. Oder es lag an Conny und Romy, die im September 1989 an meinem Gymnasium auftauchten, einen grauenhaften Dialekt sprachen und aus „Koooal-Moooax-Stooodt“ kamen. Die Klamotten, die Conny und Romy trugen, schienen von einem anderen Stern zu sein, während wir unsere extra-großen, mit Smiley-Buttons und kunstvollen Rissen verzierten DieselJeans ausführten und Bügelverschlüsse von Bierflaschen auf die Schuhe montierten.
Dann kam der 9. November. Und die Trabbis und Wartburgs auf den Autobahnen. Der Zonen-Gabi-Witz. Die Menschen mit den fiesen Blouson-Jacken, die staunend durch die Münchner Fußgängerzone schlichen. Und ein Brief mit Fotos von Jochen, dem Cousin meiner Mutter, dem Meisterkirschkernspucker aus den Geschichten meiner Kindheit, die um so viel spannender gewesen waren als die russischen Märchen. Ein Jahr später standen die wildfremden Verwandten aus Leipzig sogar leibhaftig vor unserer Tür. Meine neue Cousine Katja in großgemusterten Leggins.
Mit jahrzehntelanger Vorgeschichte und einem riesen Rucksack voller, daraus resultierender Ressentiments gegen den Osten fuhr ich im Sommer 1999 das erste Mal nach Leipzig und besuchte unter anderem Katja, die in einer Studentenwohnung mit Marmorbad und Blick auf den Park lebte, aber weniger Miete bezahlte als ich für meine EinZimmer-Bude. Ich amüsierte mich ganz prächtig über den Leipziger Dialekt, denn manche Leute klangen für mich wie Comedians, die Sachsen nachmachten. An manchen Stellen war Leipzig aber noch nicht Luxus, sondern genau so, wie ich es erwartet hatte: Von Abgasen gebräunte Klinkerbauten, schiefe Betonbaracken, mit Holzbrettern vernagelte Fenster. Katja ging mit mir in den Supermarkt, um Ostprodukte zu kaufen. Ein bisschen peinlich war es mir schon, dass die im Osten schon längst laufende Ostalgiewelle bei mir in München noch nicht angekommen war. Filinchen? Zetti Knusperflocken? Nudossi? Vom Bautz’ner Senf und den Spreewaldgurken hatte ich schon gehört, sie aber noch nie leibhaftig zu Gesicht bekommen. Ein Jahr später war ich schon wieder in Leipzig, weil ein japanischer Elektronikkonzern einen neuen Handheld-Computer dort in einem Automuseum vorstellte. Warum, habe ich bis heute nicht verstanden. Aber der Wein war gut und ich hatte am nächsten Tag reichlich Zeit mit Katja durch die Innenstadt zu streifen. Dank den Bauherren Schneider und Co. sowie dem Geld zu reicher und leider auch zu dummer Westdeutscher war fast alles propper herausgeputzt. Und diesmal wurde ich ausgelacht, als ich im Buchladen aus Versehen „Grüß Gott“ sagte. Sogar von meiner Cousine.
Das nächste Mal dauerte es Jahre, bis ich wieder in den Osten fuhr, die Welt hatte sich nochmal ein paar Umdrehungen weiter gedreht. Jetzt war Leipzig nicht mehr zum Lachen oder Bemitleiden, sondern es fand dort offiziell und turnusmäßig „Wetten, dass ...“ statt, und zwar keineswegs als sommerliche Exoten-Ausgabe aus irgendeinem Urlaubsland. Das war ernst gemeint, die Stars reisten nach Leipzig, ich auch, um in einem Hotel im Zentrum den Sänger Seal zu treffen. Dem war es egal, ob das feine Hotel mit dem knöcheltiefen roten Teppich und den edlen weißen Sofas, auf denen wir artig saßen und uns unterhielten, in Hamburg, Leipzig, Köln, Rom, Bukarest oder sonstwo stand. Es gab Tee aus feinen Porzellantassen und Seal verriet mir, dass er es sexy findet, wenn Heidi Klum für ihn kocht. Von innen betrachtet hätte das Gespräch irgendwo auf der Welt stattfinden können, von außen gesehen war es sehr leipzigerisch: Frisch renoviertes Palasthotel und keine hysterischen Menschen davor, die Promis gucken wollen. Offensichtlich Überflüssiges war in den Nach-Wendejahren reichlich nach Leipzig getragen worden, so dass man schnell gelernt hatte, es vom Notwendigen oder Sinnvollen zu unterscheiden. In der Winterkälte vor einem Hotel auf sogenannte Stars zu warten gehörte nicht dazu, auch nicht der Kauf der Lagerfeld-Kollektion beim Bekleidungs-Discounter „H&M“. Während sich in den deutschen Städten des Westens an diesem Wochenende die Mädchen schier um die T-Shirts und Höschen des Designers prügelten, blieben sie in Leipzig an der Stange hängen. Sehr schicke Frauen zupften an den Stöffchen und raunten ihren Freundinnen zu, wie windig die doch verarbeitet waren. Junge, sehr modische Mädchen befanden die ausgefalleneren Stücke für untragbar, und ja, billig. Die heiße Trend-Ware war außerdem im Kellergeschoß ausgestellt, nicht im Erdgeschoss wie in den Filialen, in denen der Hype ausbrach. So gab es am Samstag Nachmittag noch alles in allen Größen, zu einem Zeitpunkt, wo die Lager in anderen Städten schon leer waren und die T-Shirts bei Ebay ihren Preis schon vervielfacht hatten. Ich kaufte dann in einem anderen Geschäft einen schönen Wollmantel, und die sehr hübsche, sehr gepflegte Verkäuferin gratulierte mir zu meiner guten Wahl. Mit immer noch reichlich Zeit im Gepäck streifte ich weiter durch die Innenstadt, kaufte Geschenke und schöne Bücher in dem ausgesprochen wohlsortierten Buchladen.
Читать дальше