Der Lago Maggiore ist grauenhaft schön. Im Gras an der Uferpromenade von Verbania Pallanza, einer auf einer Landzunge verborgenen Enklave abseits der sich am See entlang schlängelnden Panoramastraße, liegen die Gänseblümchen und schlafen. Über ihnen beugen sich blütenschwer die Zweige der Kirsch- und Magnolienbäume als schützendes, flauschiges Dach. Sogar bei Nacht strahlen sie in frischen Farben, als fluoreszierten sie im faden Licht der elektrischen Laternen. Leise plätschern die Wellen des Sees ans Ufer. Auf der anderen Seite der tintenschwarzen Wasserebene glitzern die Orte am Ostufer, darüber spannt sich ein gigantisches Sternenzelt. Eine Asiatin pflückt einen blühenden Zweig vom Baum, auf einer der vielen Bänke sitzt ein Pärchen und raucht, ein junger Mann mit Strickmütze wühlt in einem Abfalleimer. Ansonsten ist die Promenade menschenleer. Nur die Krieger am Denkmal halten Wache, angestrahlt von trüben Schweinwerfern, die steinernen Mäntel fest um sich gezogen. Ich höre die Ledersohlen meiner frühlingspinken Mokassins auf dem Pflaster knarzen. In meinem Kopf dröhnen noch die Songs aus den 90er Jahren, die ich auf der Fahrt gehört habe. Sie erinnern mich an vergangene Beziehungsenttäuschungen. „Summer of 69“, „Killing me softly“, „Crying just to let you“. Ich habe keine Tränen, nicht an diesem Abend, ich bin leer.
In der „Pizzeria Magnolie“ bestelle ich erst recht eine Pizza mit Wurst, Zwiebeln und Knoblauch, ich bin ja alleine in meinem Palasthotelzimmer mit der Damast-Tagesdecke. Ich trinke kein damenhaftes Viertel, sondern einen halben Liter Wein, damit ich mir später wenigstens selbst beim Schnarchen zuhören kann. Das Lokal ist voll, vor allem mit Einheimischen, ich bin natürlich die einzige, die allein gekommen ist. Ich sehe hinaus auf den See, das funkelnde andere Ufer, und warte darauf, dass es mir etwas ausmacht, allein da zu sitzen. Hinterher, wieder auf der Promenade, streichle ich die Kirschblüten, sie sind weich wie Haut und kühl wie totes Fleisch, ich schließe die Faust ganz fest um einen Zweig, so fest, dass mir die Handballen weh tun, aber die Blüten falten sich danach einfach wieder auf, als wäre nichts gewesen. Statt dem Blut des Kirschbaums bleiben nur vier kleine, rote Halbmonde in meiner Hand zurück, die Abdrücke meiner eigenen Fingernägel.
Die Isola Bella ist herzzerreißend hübsch. Eben erwacht sie aus ihrem Winterschlaf, die Souvenirhändler bauen gerade erst ihre Stände auf. Aus Stresa kommen urlaubende Rentner und Kleinfamilien in privaten See-Taxis angetuckert, direkt vor dem Schloss des Carl Borromäus gehen sie von Bord, galant gestützt von silberhaarigen Fährmännern. Ich bin mit dem Linienschiff da, aber aus dem sind heute Mittag auch nicht mehr Besucher gestiegen als aus den kleinen Holzschiffen. Das Schloss, das überall, außer auf einer winzigen Insel, mickrig aussehen würde, hier aber eindrucksvoll über dem See thront, schläft noch. Die Fenster sind blind, alle Türen verrammelt, Frühlingseröffnung erst nächste Woche. Von der Wand bröckelt ein wenig der Putz, als müsste sich der Palast noch mausern wie die Spatzen, die noch schlank vom Winter jedem Besucher fröhlich entgegen hüpfen. Wieder einmal bin ich die einzige, die allein über das Flusskieselpflaster tappt, die Jacke bis oben hin zugeknöpft, die frühlingshafte lila Tasche mit der aufgenähten Erdbeere tapfer geschultert und das Gesicht hinter einer riesigen roten Sonnenbrille versteckt, total Fashionista, total daneben. Ich bilde mir ein, dass alle Leute mich mitleidig ansehen, weil kein Mensch freiwillig allein zur Kirschblüte auf die Borromäischen Inseln schippert, um dann dort allein unter den Bäumen zu wandeln. Das ist, aus der Distanz betrachtet, auch wirklich sinnlos. Aber vom Vorplatz des Palazzo Borromeo aus gesehen, mit den schneebezuckerten Alpen im Hintergrund, den ockerfarben in der Sonne leuchtenden Dörfern am Ufer, den entzückenden Inselchen davor und dem glitzernden Wasser ist es - ich bin von mir selbst überrascht - ziemlich schön. Und weit sinnvoller als der Ausflug des noch stylisher angezogenen Pärchens, das schweigend und ohne sich anzusehen Runde für Runde um die Insel geht, oder der des deutschen Ehepaars, sehr später Eltern eines kleinen Buben, der versucht, einen schönen Tag zu haben, und dafür abwechselnd von der Mutter oder vom Vater gemaßregelt wird: „Nein Benjamin, da nimm deine Finger weg!“, „Schau Benjamin setz dich mal auf die Kanone hier, los, komm, setz dich mal drauf!“ Sie haben weniger Spaß als ich. Sie entdecken nicht die gefleckte Katze, die auf einem Balkon zwischen Opuntien sitzt und in die Sonne blinzelt, sondern bleiben mit dem Blick an den grauenhaften, Kunsthandwerk vortäuschenden, aber wahrscheinlich aus chinesischer Produktion stammenden Töpferarbeiten in den zwei schmalen Dorfgässchen hängen. Die Spaziermöglichkeiten sind ausgesprochen eingeschränkt, denn der Park des Schlosses, die Hauptattraktion der Insel, ist auch noch geschlossen, so wie fast alles am Lago Maggiore - obwohl die Kirsch- und Magnolienbäume aus den Gärten heraus so hell leuchten wie die Spitzen der Berge. Der Park der Villa Pallanza - nächste Woche erst offen. Die fröhliche Nachmittags-Kreuzfahrt „Pomeriggio sul Lago“ - „Tut uns leid, dafür kommen heute sicher nicht genug Gäste zusammen, vielleicht am Sonntag, fragen Sie einfach noch einmal.“ Die Seilbahn zum Aussichtsberg? Winterpause. Isola Madre? Palast und Museum hat zu, nur im Garten könnte man herumgehen. „Aber denken Sie daran, Magnolienfest ist erst nächste Woche.“ Doch nächste Woche, wenn alles eröffnet, gibt es nur noch Schneefall aus blassrosa, toten Blütenblättern und braunen, matschigen Ex-Magnolienblüten. Der Mensch plant, Gott lacht. Ich jetzt auch, aber mit einem Ziehen im Bauch, das mich daran erinnert, dass ich nur meine Enttäuschung mit der Welt teilen will.
Die ältliche Kellnerin in einem der zwei geöffneten Lokale scheint mir ganz besonders freundlich und zuvorkommend zu sein, genau wie die magere Souvenirhändlerin, die mir wortreich die Preise jeder einzelnen Schneekugel und jedes Kühlschrankmagneten erklärt, die unverwüstlichen Kleinigkeiten umständlichst in Papier wickelt. Wie die alte Dame einen Stand weiter, die mir das Heftchen „Schätze Italiens: Lago Maggiore und die Inseln des Borromeo-Golfs“ sorgsam in eine Tüte packt und dabei versucht, durch meine Sonnenbrillengläser in mein Herz zu sehen. Zwei Stunden, bis der Liniendampfer wieder zurück fährt, und schon drei Mal jedes Gässchen abgegangen, ich brauche etwas zu lesen, wenn schon niemand mit mir spricht. Da sitze ich also wieder, schaue über mein bestimmt extra großes Tris di Pasta auf einen leeren Stuhl und jetzt macht es mir wirklich etwas aus. Hundertausend Mal allein in ein Lokal gegangen, aber auf der Isola Bella hört der Spaß an der Emanzipation auf. Dazu kommt, dass die Fleischsauce auf der Lasagne, der größte Teil des Tris, mindestens vom letzten Herbst stammt und das Coperto-Brötchen mindestens vom Vortag. Lautstark palavert eine italienische Freundesclique am Nebentisch, das stylishe Pärchen sitzt in der Sonne und isst schweigend Kuchen, zwei alte Damen bestellen Kaffee. Alles ist besser als allein mit einem holprig übersetzen Reiseführer und einem durchwachsenen Tris-Teller auf der sonnenbeschienenen Loggia zu sitzen. Sogar die dicke Ente, die an meinen Stuhl heranwatschelt und mit kleinen, hellen Knopfaugen um den Rest vom Brötchen bittet, hat einen Begleiter dabei.
Dann sitze ich wieder auf der Sonnenbank, warte auf das Schiff, spüre, wie kalt der Wind über den See zieht, sehe die stillstehende Seilbahn am anderen Ufer. Das Loch im Bauch wird riesengroß. Nur eine Frage hallt vom Grund des Kraters herauf: Warum? Am Festland tue ich das einzige, was hilft, wenn sich der Krater weder mit Erfahrungen noch Alkohol oder kohlehydrathaltigem Essen auffüllen lässt: Shoppen. Ich vergucke mich in eine azurblaue Handtasche, aber der Laden, aus dessen Fenster sie lacht, hat geschlossen. Wie die meisten in Pallanza. Ich fahre eine Ecke weiter, nach Intra, wie alle Einheimischen auch, und da lachen noch viel mehr Taschen aus viel mehr Geschäften, die alle offen haben. Beige Prada-Lackschuhe glänzen verführerisch im Schaufenster. Ich kaufe ein Tiramisu-Gelato, um nicht in die Läden hineingehen zu können, betrachte Taschen mit aufgestickten Comic-Helden, aus Bast gewebte Taschen, Taschen aus geflochtenem Leder und riesige Stoffbeutel mit Kettengriffen. Es geht schon besser. Aber eigentlich will ich gar nichts kaufen. Wer braucht schon schöne Ausgehschuhe, wenn er den Abend im Hotelzimmer verbringen wird, wer eine neue Tasche, wenn er doch kürzlich extra für den romantischen Frühling eine Erdbeertasche angeschafft hat. Das Handy klinget. Meine Mutter. „Jaja, alles super hier, tolles Wetter, blühende Bäume, schon einen Ausflug zu den Inseln gemacht ...“
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