Der Jäger Ortega hatte zwei Wochen geschlafen. Jetzt vergingen jedoch zwei Wochen, ein Monat und noch ein halber, ohne daß sich am Zustand der Schlafenden etwas änderte. Ihre Körper waren warm und weich, aber ihr Atem und der Herzschlag hatten ausgesetzt.
Als erster erwachte Doktor Boril. Das geschah am dreiundfünfzigsten Tag, nachdem er vom Wasser getrunken hatte. Wie einst Ortega glich jetzt auch der Doktor einem Säugling, was ein großes Unglück war.
Im Unterirdischen Land gab es nämlich nur zwei Ärzte – für einen dritten hätten sich dort keine Patienten gefunden. Die Ärzte überlieferten ihr Wissen den Nachfahren, immer vom Vater auf den Sohn. Aber die Väter Borils und Robils waren längst tot, und es gab niemanden, der den beiden die Heilkunde wieder beibringen konnte.
Die sieben Könige schnaubten vor Wut. Wenn sie erkrankten, würde es jetzt niemanden geben, der ihnen helfen konnte! Sie wollten sogar Ortega aufhängen, weil er diese Unglücksquelle entdeckt hatte, aber dann überlegten sie es sich, denn das hätte ja niemandem genützt.
Binnen drei Tagen war Doktor Boril so weit, daß er gehen und sprechen konnte. Aber die Heilkunde hatte er völlig vergessen. Zum Glück fanden sich im Haus die Aufzeichnungen seines Vaters und die alten Hefte mit den Hausaufgaben Borils. Nach zwei Wochen konnte er schon leidlich seinem Beruf wieder nachgehen.
Unterdessen war auch Robil erwacht.
»Ich werde ihn unterrichten!« sagte Boril, und natürlich hatte niemand etwas dagegen einzuwenden.
Jetzt, da er über seinen Freund und Rivalen Macht hatte, wollte der dicke Doktor jeden möglichen Vorteil daraus ziehen. Als Robil wieder zu sprechen anfing, flüsterte Boril ihm ein:
»Weißt du, wer ich bin? Ich bin der berühmte Doktor Boril, ein großer Mann der Wissenschaft, dein einziger Lehrer und Beschützer, ohne den du dein Leben lang ein Dummkopf und Trottel bleiben würdest. Hast du verstanden? Wiederhole!«
Der baumlange Robil, der fast zusammenknickte und dabei immer noch auf seinen Lehrer herabblickte, schaute ihn mit verliebten Augen an und sagte:
»Ihr seid der berühmte Doktor Boril, ein großer Mann der Wissenschaft, mein einziger Lehrer und Beschützer. Ohne Euch würde ich mein Leben lang ein Dummkopf und Trottel bleiben…«
»So, das merke dir und höre nicht auf die Leute, die dir etwas anderes sagen sollten.«
Die Minister, die mehr als die Doktoren vom Wasser getrunken hatten, schliefen drei Monate. Dann erwachten sie beide gleichzeitig. König Ukonda, der darüber erbost war, daß sie ohne Erlaubnis ihr Amt verlassen und so lange geschlafen hatten, gebot ihnen einzuflüstern, daß sie früher Diener im Palast gewesen seien. Ihren Angehörigen befahl er unter Androhung schwerer Strafe, den Ärmsten nichts von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Dieses kühne Experiment gelang: Beide Minister hatten die Vergangenheit völlig vergessen. In ihren Dienerkleidern liefen sie mit Tabletts durch den Palast, fegten die Zimmer, putzten Schuhe und bedienten bei Tisch.
Als sich diese seltsamen Dinge zutrugen, befand sich unter den sieben Hütern der Zeit einer namens Bellino, der durch Verstand und Ehrlichkeit hervorragte. Seinen klugen Ratschlägen folgten nicht nur die anderen Hüter der Zeit, sondern sogar die Könige.
Dieser Bellino hatte einen prächtigen Einfall.
»Wie wär’s, wenn man die Könige einschläfern würde für die Zeit, in der sie nicht regieren?« sagte er leise, blickte sich aber sogleich nach allen Seiten um, ob niemand horche…
Zuerst schien ihm diese Idee vermessen und unerfüllbar, aber je länger er nachdachte, desto mehr gefiel sie ihm.
›Jetzt‹, überlegte Bellino, ›muß das Volk sieben Könige mit ihren Familien, sieben Höfe, sieben maßlos freche Dienerhaufen, sieben militärische Wacheinheiten und sieben Spionsbanden ernähren. Das sind mehr als tausend unnütze Esser. Wird aber meine Idee verwirklicht, so werden dem Volk nur etwa anderthalb Hundert Tagediebe auf der Tasche liegen, während die übrigen friedlich und traumlos schlafen und nicht an ihren Magen denken werden.‹
Zuerst überlegte der alte Bellino selbst seinen Plan, dann teilte er ihn dem kleinen dicken Doktor Boril mit.
»Bei allen Senfumschlägen der Welt«, rief dieser begeistert, »das ist eine geniale Idee! Aber werden unsere Herrscher schlafen wollen?« fügte er nachdenklich hinzu. »Egal, dann werden wir sie eben überreden!«
Vor allem mußten jedoch die geheimnisvollen Eigenschaften des Schlafwassers untersucht werden. Das übernahmen Bellino und die Doktoren Boril und Robil.

Sie stellten fest, daß das Zauberwasser einmal im Monat aus dem Felsen hervortrat. Es füllte das kleine runde Becken, verblieb darin mehrere Stunden und floß dann in die unerforschte Tiefe der Erde zurück.
Das Wasser wurde in Krügen in die Stadt gebracht, aber schon nach 24 Stunden verlor es seine einschläfernde Kraft. Damit es wirkte, mußte man es frisch trinken.
Es war nicht leicht herauszufinden, wieviel Zauberwasser ein Mensch trinken mußte, um genau sechs Monate zu schlafen. Die Versuche Bellinos und der beiden Ärzte nahmen geraume Zeit in Anspruch.
Mit Genehmigung der sieben Könige, die keine Ahnung hatten, worum es ging, schläferten die Ärzte Handwerker und Bauern ein. Diese ließen es gern geschehen, denn der lange ruhige Schlaf brachte ihnen Erholung von der schweren Arbeit.
Als die Versuche beendet waren, wußte man genau, wieviel Zauberwasser ein erwachsener Mann trinken muß, um ein halbes Jahr zu schlafen. Frauen brauchten eine kleinere Dosis, Kinder noch weniger.
Nach Abschluß der Versuche bat Bellino die Könige, den Großen Rat einzuberufen, an dem nach altem Brauch die Herrscher mit allen ihren Angehörigen, den Ministern und Hofleuten teilnahmen.
Der Rundsaal des Regenbogenpalastes mit seinen Girlanden phosphoreszierender Kugeln bot ein prächtiges Bild. Der Saal war in sieben Sektoren eingeteilt – jeder für einen König und seinen Hof. Die Kleider der Herrscher und ihrer Hofleute waren wie immer verschiedener Farbe.
In einem Sektor strahlte Grün in allen Tönen. In einem anderen leuchtete Rot in berückenden Verbindungen, weiter folgten Tiefblau und Violett, Himmelblau und Goldgelb. In diesem riesigen unterirdischen Saal wäre selbst ein Regenbogen vor Neid erblaßt.
Das Auge, von den eintönigen bronzenen, braunen und dunkelroten Farben des unterirdischen Landes müde, konnte hier ausruhen und sich an der strahlenden Pracht ergötzen. Nicht umsonst hatte der weise König Karvento vor 200 Jahren ein Gesetz verabschiedet, das die düstere Natur des unterirdischen Reiches durch viele helle Farben aufzuheitern gebot. Damals wurden die Häuser, die Zäune und Wegweiser meergrün, himmelblau und perlmuttfarben gestrichen.
Als der letzte König, der sich verspätet hatte, mit seiner Gattin und den zwei Söhnen in den Saal trat, wurde die Versammlung eröffnet.
Mit Genehmigung König Asfejos, der in diesem Monat regierte, nahm der Hüter der Zeit, Bellino, das Wort. Er sprach von der schwierigen Lage, in der sich das Land befand.
Schon lange, sagte er, reichen die Arbeitskräfte nicht mehr aus, mit jedem Jahr fließen immer weniger Steuern in die Staatskasse, und deshalb müsse der Luxus der königlichen Höfe eingeschränkt werden…
»Pfui, Schande!« hörte man von den Plätzen rufen, wo die Könige saßen.
»Auch ich bin der Ansicht, daß man damit Schluß machen muß«, fuhr Bellino fort. »Ich glaube auch ein Mittel gefunden zu haben.«
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