Diesmal hatte die Fehde zwischen den Sechsfüßern und den Echsen den Menschen jedoch das Leben gerettet.
DIE MENSCHEN BEGINNEN EIN NEUES LEBEN
Jahre vergingen. Die Ausgestoßenen gewöhnten sich allmählich an das Leben unter der Erde. Sie erbauten am Ufer des Sees eine Stadt und umgaben sie mit einer steinernen Mauer. Um nicht Hungers zu sterben, begannen sie zu pflügen und Getreide zu säen. Die Höhle lag so tief, daß ihr Boden durch die unterirdische Hitze erwärmt wurde. Von Zeit zu Zeit fiel Regen aus den goldgelben Wolken, so daß der Weizen ausreifen konnte, allerdings langsamer als auf der Erde. Für die Menschen war es aber ungeheuer anstrengend, die schweren Pflüge über die steinigen Äcker zu schleppen.
Einmal kam der alte Jäger Karum zu König Bofaro und sagte zu ihm:
»Eure Majestät! Die Bauern werden die Mühen des Pflügens nicht mehr aushalten können und vor Erschöpfung sterben. Darum schlage ich vor, daß wir Sechsfüßer vor die Pflüge spannen.«
Der König fragte überrascht:
»Werden die Bestien die Bauern nicht zerreißen?«
»Ich werde sie zähmen«, versicherte Karum. »Oben, auf der Erde, hatte ich mit den schrecklichsten Raubtieren zu tun, und ich habe sie immer gezähmt!«
»Dann tu es!« willigte Bofaro ein. »Du wirst wahrscheinlich Helfer brauchen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte der Jäger, »aber außer den Menschen werden mir auch die Drachen helfen.«
Wieder staunte der König. Doch Karum sagte ruhig:
»Seht, wir Menschen sind schwächer als die Sechsfüßer und die fliegenden Echsen. Aber wir besitzen Verstand, und den haben diese Tiere nicht. Ich werde die Sechsfüßer mit Hilfe der Drachen zähmen, und die Sechsfüßer werden mir helfen, die Drachen in Botmäßigkeit zu halten.«
Karum machte sich an die Arbeit. Seine Jäger lasen Drachenjungen auf, die eben aus den Eiern geschlüpft waren. Unter der Obhut der Menschen wuchsen die Jungen zu gehorsamen Tieren heran, und mit ihrer Hilfe gelang es Karum, die ersten Sechsfüßer einzufangen.
Es war nicht leicht, die wilden Tiere abzurichten, aber die Menschen schafften es. Als die Sechsfüßer viele Tage nichts zu fressen bekamen, begannen sie von den Menschen Nahrung anzunehmen, und dann ließen sie sich auch anschirren und vor den Pflug spannen.
Anfangs gab es auch Unfälle, aber dann kam alles in die rechte Bahn. Zahme Drachen trugen die Menschen durch die Lüfte, und Sechsfüßer pflügten den Boden. Die Leute atmeten erleichtert auf, die Gewerbe erblühten.
Weber webten Stoffe, Schneider nähten Kleider, Töpfer stellten Töpfe und Schüsseln her, Erzgräber hoben Erz aus den tiefen Gruben, Gießer erschmolzen daraus Metalle, und Schlosser und Dreher fertigten aus den Metallen Gegenstände, die das Volk brauchte.
Die Erzgewinnung war sehr anstrengend, in den Gruben arbeiteten viele Menschen, und deshalb begann man dieses Gebiet das Land der unterirdischen Erzgräber zu nennen.
Da die Ausgestoßenen auf sich selbst angewiesen waren, wurden sie erfinderisch. Allmählich vergaßen sie die obere Welt. Die Kinder, die in der Höhle geboren wurden, hatten das oberirdische Land niemals gesehen – sie kannten es nur aus den Geschichten, die ihnen ihre Mütter erzählten und die sich bald wie Märchen anhörten…
Das Leben wurde nach und nach erträglicher.
Unterdessen hatte sich aber der ehrgeizige Bofaro mit zahlreichen Hofleuten und Dienern umgeben, und den Unterhalt dieser Tagediebe mußte das Volk bestreiten.
Obwohl die Bauern fleißig den Boden pflügten, säten und Getreide ernteten, die Gärtner Gemüse zogen und die Fischer Fische und Krabben im See fingen, hatten die Menschen doch bald nicht mehr genug zu essen. Deshalb mußten die Erzgräber einen Tauschhandel mit den oberirdischen Menschen beginnen.
Die Unterirdischen tauschten ihre Erzeugnisse – Kupfer und Bronze, eiserne Pflüge und Eggen, Glas und Edelsteine – gegen Getreide, Butter und Früchte der Oberirdischen.
Allmählich entwickelte sich der Handel. Der Marktplatz, wo der Tausch getätigt wurde, lag am Ausgang des unterirdischen Reichs in das Blaue Land, dicht an dessen östlicher Grenze. Dieser Ausgang war einst auf Befehl König Aranjas durch ein mächtiges Tor versperrt worden. Nach Aranjas Tod wurde die Wache jedoch von dem Tor zurückgezogen, denn die unterirdischen Erzgräber unternahmen keinen Versuch, in die obere Welt zurückzukehren. Während der vielen Jahre ihres unterirdischen Lebens hatten sie die Sonne nicht mehr gesehen, und jetzt konnten die Erzgräber nur noch nachts zur Oberfläche aufsteigen, weil für ihre Augen das Sonnenlicht zu grell war.
Jeder Markttag wurde durch das mitternächtliche Geläute der Glocke angekündigt, die über dem Tor hing. Am Morgen prüften und zählten die Kaufleute des Blauen Landes die Waren, die die unterirdischen Einwohner nachts hinterlassen hatten. Dann brachten Hunderte Menschen Schubkarren mit Säcken voller Mehl, Körbe mit Obst und Gemüse, Kisten mit Eiern, Butter und Käse zum Tor. In der folgenden Nacht wurde alles von den Bewohnern des unterirdischen Landes abgeholt.
KÖNIG BOFAROS VERMÄCHTNIS
Bofaro regierte viele Jahre im unterirdischen Lande. Er war mit zwei Söhnen hinabgestiegen, dann wurden ihm weitere fünf geboren. Da Bofaro alle seine Kinder gleich liebte, wußte er nicht, welches er zu seinem Nachfolger bestimmen sollte. Er dachte, wenn er einen Sohn zum Thronfolger auswählte, werde er dadurch die anderen sehr kränken.
Siebzehnmal änderte Bofaro sein Vermächtnis, bis er, des Klatsches und der Intrigen seiner zukünftigen Erben müde, auf einen Gedanken kam, der ihm die Ruhe wiedergab. Er ernannte nämlich alle sieben Söhne zu seinen Erbfolgern. Sie sollten, so besagte das Vermächtnis, der Reihe abwechselnd je einen Monat regieren. Damit sie sich nicht stritten und nicht bekriegten, mußten sie dem Vater schwören, daß sie immer in Frieden leben und die Reihenfolge der Herrschaft genau einhalten würden.
Der Eid fruchtete aber nichts. Gleich nach dem Tod Bofaros begannen die Brüder miteinander zu streiten, wer als erster die Herrschaft antreten solle.
»Wir müssen die Reihenfolge der Herrschaft nach unserem Wuchs bestimmen. Ich bin der Größte, und darum werde ich als erster regieren«, sagte Prinz Wagissa.
»Mit Verlaub«, entgegnete der dicke Gramento, »wer mehr wiegt, hat mehr Verstand, also soll die Waage entscheiden, wer als erster zu regieren hat.«
»Du hast viel Fett, aber keinen Verstand«, schrie Prinz Tubago. »Mit den Geschäften des Königreichs wird der Stärkste am besten fertig. Ich nehme es mit dreien von euch auf. Tretet vor und laßt uns unsere Kräfte messen!« brüllte er, seine riesigen Fäuste schwingend.
Es kam zu einer Rauferei, bei der einer der Brüder etliche Zähne verlor, während die anderen blauunterlaufene Augen und ausgerenkte Arme und Beine davontrugen…
Als sich die Prinzen wieder ausgesöhnt hatten, wunderten sie sich, daß ihnen nicht schon früher die beste Lösung eingefallen war, nämlich die Reihenfolge nach dem Alter der Brüder festzulegen.
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