Erster Teil:
Gespenster aus dem Elmenland
EIN HAUS VOLLER GESPENSTER
Es war Herbst auf dem Planeten Irena und häßliches, verregnetes Wetter. Vi und Ol, die Eltern des Mädchens Viola, hatten heute frei und zogen es vor, an solch einem Tag zu Hause zu bleiben. Sie wollten es sich gemütlich machen und setzten sich auf das kleine Sofa vor dem Kamin, das ihnen beiden genügend Platz bot.
»Hier wäre sogar noch ein Eckchen für unsere Tochter frei«, begann Ol, biß sich jedoch gleich auf die Zunge. Er war mit seiner Frau stillschweigend übereingekommen, nicht von Viola zu sprechen, weil ihnen das nur Kummer bereitet hätte. Die beiden hatten das Mädchen nämlich auf einem Erdenstützpunkt zurücklassen müssen, als sie selbst Hals über Kopf zur Irena zurückbeordert worden waren.
»Heute läuft ein spannender Film im Fernsehen«, murmelte Vi, als hätte sie die Worte ihres Mannes nicht gehört. »Etwas mit einem Gespensterschloß.«
Ol war erleichtert. »Aber ja«, erwiderte er leicht spöttisch, »ein Märchen für Schulkinder: ein bißchen Grusel, ein bißchen was zum Lachen, und am Ende siegt das Gute.«
»Bist du wirklich überzeugt, daß es keine Gespenster gibt?« fragte Vi. »Und was ist mit den Elmen?«
»Gewiß existieren rätselhafte Erscheinungen, für die wir noch keine Erklärung haben, aber Gespenster…« Ol zuckte die Achseln. »Die Elme jedenfalls könnte man höchstens Geister nennen, wenn man schon Ausdrücke aus dem Jenseits gebraucht.«
Draußen rauschte eintönig der Regen. Beide schwiegen und hingen ihren Gedanken nach, die der Tochter galten. Dabei hatten sie noch nicht mal eine Ahnung von den Dingen, die nach ihrer Abreise passiert waren. Denn zwischen der Erde und dem Planeten Irena gab es eine Reihe geheimnisvoller Tunnel, die eine direkte Verbindung zur jeweils anderen Welt ermöglichten. Die Erdenbewohner wußten nur nichts davon. Sie wunderten sich zwar, wenn an manchen Stellen der Ozeane, wie zum Beispiel in dem berühmten Bermudadreieck, immer wieder Schiffe mit all ihren Passagieren spurlos verschwanden, schoben das aber auf die unergründliche Natur. Doch die eigentliche Schuld trugen die Massaren, eine bestimmte Menschengruppe auf der Irena. Sie hatten die Macht auf ihrem Planeten und nutzten diese Schächte, um die Erde zu erforschen, ja, um sie später sogar zu erobern.
Durch einen dummen Zufall war nun Viola in so einen Tunnel und in eine Zwischenwelt, das sogenannte Elmenland, gelangt. Sie und ihre Eltern gehörten nicht zu den Massaren, sondern zu den Vitanten, die den Menschen Gutes wollten, aber keine Macht besaßen.
Im Elmenland herrschte ein wüstes Durcheinander von Dingen und Erscheinungen. Die Menschen verloren dort ihre körperliche Gestalt und wurden zu durchscheinenden Wesen, die aus elektromagnetischen Wellen bestanden. Diese Wesen, die Elme, hatten einen Doppelgänger, mit dem sie nur noch lose verbunden waren. Ohne ihn vermochten sie nicht wieder aus dem Tunnel zu gelangen. Nichtsdestoweniger lebten sie, konnten sich bewegen, unterhalten und nach Belieben ihre Form verändern.
Zum Glück war Viola im Elmenland nicht allein, sie hatte einen Jungen von der Erde getroffen. Kostja wollte seinen Papierdrachen fliegen lassen und war dabei gleichfalls in so einen Schacht geraten. Auch Viktor Stepanowitsch, ein Geologe, und sein Begleiter, der Jäger Kusmitsch, befanden sich im Elmenland. Viola und Kostja hätten sich nie aus ihrer schlimmen Lage befreien können, wären nicht diese beiden Männer und der Krake Prim gewesen, der über hypnotische Kräfte verfügte. Der Krake war ein selbstloser Freund. Er opferte schließlich seinen einzigen Schatz, eine wunderbare Haliotisperle, um den Kindern zu helfen.
Von all den Geschehnissen im Elmenland war bisher nichts zu den Eltern Violas gedrungen. Sie wußten nicht, daß zwei Massaren die Tochter und den Jungen Kostja verfolgt hatten, um sie an der Flucht zu hindern, und daß die Kinder weitere Unterstützung von Kau-Ruck und Ilsor bekamen. Die beiden stammten von der Rameria, einem dritten Planeten.
Vi und Ol saßen also da, sehnten sich nach ihrem Töchterchen und hörten plötzlich ein Geräusch aus dem Kinderzimmer.
Das Geräusch wiederholte sich, und nun schlichen beide leise, auf Zehenspitzen, zum Kinderzimmer, öffneten lautlos die Tür.
Das Bild, das sich ihnen bot, war mehr als erstaunlich. In der Mitte des Raumes, wo auf dem Fußboden eine Kindereisenbahn aufgebaut war, sauste ein Zug dahin; er ratterte über die Schwellen, und jedesmal, wenn er eine Weiche passierte, klingelte leise ein Glöckchen. Auf den Bahnhöfen und Vorortstationen aber warteten Puppen und andere Spielzeuggestalten auf ihren Zug, um zum Spaß mitzufahren. Auch Figuren von der Erde waren darunter. So hatten die Eltern einmal eine Strohpuppe mitgebracht, die dem berühmten Scheuch aus der im Zauberland gelegenen Smaragdenstadt nachgebildet war. Das Zauberland, vor vielen Jahrhunderten durch den großen Zauberer Hurrikap geschaffen, lag in der Nähe des nordamerikanischen Staates Kansas. Doch nicht nur der Scheuch, auch ein mächtiger geflügelter Drachen im Zimmer schien gleichfalls aus diesem Land voller Fabelwesen zu stammen. Daneben gab es bei Viola aber auch noch Spielzeug, an das sich die Eltern nicht erinnerten. Zum Beispiel einen riesigen Kraken, wie sie in den Tiefen der Erdenmeere leben, und einen Flugmolch von der Irena, eine hier recht bekannte Tierart.
»Ist hier jemand?« fragte Ol laut.
Keine Antwort. Die beiden suchten das Zimmer ab, konnten aber keinen Menschen entdecken.
»Laß uns noch einmal ganz gründlich nachschaun«, schlug Vi vor.
Sie stöberten in sämtlichen Ecken, schauten unter den Tisch, in die Schränke. Umsonst! Da war niemand. Blieb nur noch die Möglichkeit, daß sich die Eisenbahn zufällig angeschaltet hatte.
Sie waren noch mitten beim Suchen, als erneut ein leises Klingen ertönte. Der Zug drehte abermals seine Runden!
Plötzlich bemerkte Ol, daß der Sensorschalter aufleuchtete, als wäre er gerade erst betätigt worden. Aber von wem? Vi oder er hatten ihn auf keinen Fall berührt.
Ol sah, daß seine Frau ebenfalls auf den Schalter starrte und ein leichtes Zittern nicht unterdrücken konnte. Er ging zu ihr, um ihr beruhigend über den Kopf zu streichen. Doch zwischen seinen Fingern und ihren Haaren tanzten auf einmal Funken.
»Meine Güte, du bist ja elektrisch aufgeladen wie ein Kugelblitz«, sagte Ol. »Du wirst uns noch die Wohnung abbrennen.«
Der spaßhafte Ton ihres Mannes beruhigte Vi ein wenig, ihre Erstarrung löste sich. Dann aber zog sie ihn am Ärmel und legte den Finger auf die Lippen:
»Psst! Da ist jemand im Wohnzimmer!«
Sie schlichen zum Korridor, und Ol öffnete vorsichtig die Tür.
Im Wohnzimmer unterhielt sich der große Fernsehsessel mit einem Polsterstuhl. Sie standen sich gegenüber, berührten einander fast mit den Armlehnen und wackelten freudig hin und her. Es sah aus, als wären sich zwei Freunde begegnet.
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