Doch was sollte Leonard sagen? Dass Alexej Davydov hinter all ihrem Unglück steckte? Dann hätte er Jekatherina samt ihrer Familie nur noch weiter in den Abgrund gerissen.
Die Tür wurde plötzlich geöffnet; ein bulliger Kerl in den Fünfzigern trat ein. Seine prachtvolle Uniform ließ auf einen Oberst der Zarenarmee schließen, und seine blutunterlaufenen Augen verrieten ein Zuwenig an Schlaf und ein Zuviel an Wodka.
Er trat an den Tisch heran, seine kräftigen Hände griffen in Leonards blonde Locken, wie in ein Schaffell, dessen Qualität er zu prüfen gedachte. Barsch riss er dem völlig erschöpften Deutschen den Kopf in den Nacken und überstreckte dessen Hals, bis der Adamsapfel unnatürlich hervortrat. Ungewollt entwich Leonard ein angstvolles Keuchen, dabei weiteten sich seine Augen wie bei einem Stier, der zur Schlachtbank geführt wird.
»Sieh an«, raunte der Offizier dunkel. »Ein deutscher Studiosus verbündet sich mit den Aufständischen. Wer hätte das gedacht?« Er ließ Leonards Kopf so schnell los, dass dessen Stirn auf die Tischplatte schlug. »Ich dachte immer, die Deutschen seien ein Vorbild an Moral und Ordnung? Sollte sich das vielleicht ändern? Nicht auszudenken, wenn die Zarin davon erfährt. Es würde ihr das Herz brechen.«
»Ich will sofort einen Advokaten sprechen«, stieß Leonard noch einmal verzweifelt hervor. »Mein Vater ist ein angesehener Ingenieur in Königsberg. Er arbeitet für die AEG. Und ich bin ein unbescholtener Student am Polytechnischen Institut von Sankt Petersburg. Ich habe nichts Unrechtes getan. Ihr könnt mich nicht einfach festhalten und foltern. Das spricht gegen jegliches Recht!«
Die Lippen des Offiziers wurden von einem monströsen rötlichen Schnauzbart verdeckt, der bereits von Silberfäden durchzogen war. Nur an seinen erheiterten Gesichtszügen konnte Leonard erkennen, dass er sich über ihn lustig machte.
»Mein lieber Junge«, begann der Offizier süffisant. »Du hast auf offener Straße einen Juden erschlagen. Und deine kleine Freundin hat einen tapferen Kameraden des Polizeiregiments auf dem Gewissen. Glaubst du ernsthaft, dass deine Herkunft oder deine Verbindungen dir unter diesen Umständen noch etwas nützen? Dein Vater wird wünschen, dich niemals gezeugt zu haben, und deine Universität wird deinen Namen schneller aus den Büchern löschen, als du denken kannst.«
Leonard schloss verzweifelt die Augen, und während erneut Tränen darin aufstiegen, biss er die Zähne zusammen, um nicht aufzuschluchzen.
»In dieser Stadt hat es schon viel zu lange kein Todesurteil mehr gegeben«, bemerkte der Oberst kalt. »Und es wird Zeit, dass sich dieser Zustand grundlegend ändert. Ich frage mich fortwährend, in welchem Zustand sich unsere Justiz befindet, wenn Terroristinnen heimtückische Attentate auf Generäle verüben dürfen und dafür von einer völlig entarteten Gerichtsbarkeit freigesprochen werden. Es dauert nicht lange, dann haben wir Zustände wie zu Zeiten Alexander II. Fehlt nur noch, dass ihr einen Tunnel zum Palast des Zaren buddelt und Dynamit hineinsteckt. Großfürst Wladimir hatte Recht. Es war eine gute Entscheidung, den Zaren aus der Stadt in Sicherheit zu bringen.«
Leonard schluckte. Also war der Zar gar nicht anwesend, und die vielen Menschen, die er auf dem Weg zur Festung am Wegesrand gesehen hatte und die offenbar von übernervösen Militärs erschossen worden waren, hatten ganz umsonst ihr Leben gelassen.
»Der Generalgouverneur höchstselbst wird dafür sorgen, dass man an dir und deiner kleinen Freundin ein Exempel statuiert«, fuhr der Oberst fort. »Noch in dieser Woche wird ein Militärtribunal darüber entscheiden, was mit euch beiden zu geschehen hat. Und seid gewiss, wir werden in dieser Angelegenheit nichts dem Zufall überlassen. Die Bevölkerung und vor allem die Aufständischen werden erst von der Sache erfahren, wenn sie erledigt ist. Wenn ihr erst tot seid, werden sie schon merken, dass man sich nicht ohne Gefahr mit dem Zaren anlegt.«
Der Morgen war kalt und neblig, und die Verhandlung war schnell und ungerecht. Als gegen zwölf die donnernde Festungskanone den Mittag bezeugte, war das Urteil gesprochen. Tod durch Erschießen. Begründung: Terroristische Umtriebe gegen die Monarchie. Dazu heimtückischer Mord an einem Mitglied der Staatsgewalt und Tötung eines jüdischen Kaufmanns aus niederen Trieben.
Die Vollstreckung hatte unverzüglich zu erfolgen.
Leonards Augen füllten sich erneut mit Tränen, als ihm Jekatherina auf dem langen Gang nach draußen begegnete. Abgeführt in Ketten, gekleidet in einen grauen Gefängniskittel, bot sie ein Bild des Jammers. Man hatte ihr den Kopf geschoren, und nur noch ein rötlicher Flaum ließ die ehemals schönen tizianroten Haare erahnen. Ihre schmale Gestalt erschien ihm noch bleicher als je zuvor. Ihre Wangen waren eingefallen, Kinn und Stirn schimmerten dunkel, von blauen Flecken gezeichnet. Dabei wirkte ihr Blick so leer und hoffnungslos, dass es ihm wehtat. Und wenn er genauer hinsah, spiegelte sich darin einzig das Grauen, das sie in den letzten zwei Wochen hatte erdulden müssen. Für einen winzigen Moment kamen sie einander nahe genug, um dem anderen etwas sagen zu können.
»Ich liebe dich«, entfuhr es Leonard mit erstickter Stimme. »Ich werde dich heiraten, und wenn es im Himmel sein wird.«
»Ljubimyj«, flüsterte Katja. »Das wird nicht gehen. Es ist alles meine Schuld. Ich werde dafür in der Hölle schmoren.«
Noch bevor er ihr widersprechen konnte, zerrte man ihn nach draußen auf den Hof. An hastig aufgestellten Pfählen wurden sie angekettet, während annähernd zwanzig Soldaten bei dichtem Schneetreiben im Innenhof des Gefängnisgebäudes trotz dicker Mäntel frierend auf den Schießbefehl warteten.
Leonard trug nur ein dünnes Hemd und eine zerschlissene Anstaltshose. Doch die Kälte spürte er nicht mehr - erst recht nicht, als man ihm eine Augenbinde anlegte. Bis zuletzt hatte er Jekatherina angesehen. Dabei war ihm bewusst geworden, wie kostbar jeder einzelne Augenblick ihres Zusammenseins gewesen war. Nicht einmal an seine Mutter dachte er. Nur an dieses Mädchen.
»Achtung! Gewehr anlegen!«, brüllte eine befehlsgewohnte Stimme über den Hof. Das Knallen der Stiefelsohlen und das typische Durchladen der Karabiner hallten von den Mauern wider.
Leonards Gedanken überschlugen sich. Er sprach ein letztes, hastiges Gebet, obwohl er als Protestant in diesen Dingen nie besonders beflissen gewesen war.
Nichts geschah. Banges Warten. Vielleicht war er schon tot, und merkte es nicht?
Plötzlich hörte er Schritte. Jemand nahm ihm die Augenbinde ab.
Sein erster Gedanke galt Katja. Zusammengesunken hing sie am Pfahl, die Schultern schneebedeckt.
War sie tot? Doch er hatte keinen einzigen Schuss vernommen.
Ein groß gewachsener Mann stand vor ihm, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er trug keine Uniform, sondern einen gepflegten, dunkelblauen Wollmantel, der seine breiten Schultern mit einer Passe betonte. Sein Haar und sein Schnurbart waren so schwarz wie seine Bärenfellmütze, und sein strenges Gesicht erschien nicht älter als vierzig.
»Leonard Michailowitsch Schenkendorff?«
»Ja«, antwortete Leonard zaghaft.
»Geheimrat Nikolaj Michajloff, Dritte Abteilung«, antwortete der Mann in akzentfreiem Deutsch. »Sie haben die Wahl. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, wandeln wir das Todesurteil in eine Deportation in die sibirische Taiga um.«
Leonard glaubte, sich verhört zu haben. Sein Blick wanderte abermals zu Katja, der man ebenfalls die Augenbinde abgenommen hatte und die seinen Blick auffing, als ob er aus einer anderen Welt stammte.
»Das gilt auch für das Mädchen«, antwortete Michajloff schneidig.
»Es liegt also an Ihnen, ob sie leben wird!«
2.
Juni 2008, Berlin/Tunguska (Sibirien) - Aufbruch
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