»Für mich?« Erstaunen lag in ihren braunen Augen. »Ich habe doch erst im März Geburtstag.«
»Ich weiß, solange wollte ich aber nicht warten. Bis dahin könnte es zu spät sein.«
»Wie meinst du das?« Mit einem verunsicherten Blick öffnete sie das Paket so vorsichtig, als befände sich ein gefährliches Tier darin. In einer Hinsicht behielt sie Recht. Es war ein Tier - doch es konnte sich nicht mehr regen.
»Ein Handwärmer aus schneeweißem Polarfuchs!« Zärtlich strich Katja über den kostbaren Pelz. Leonard half ihr die glänzende, gedrehte Kordel um den Hals zu legen, an dem der Muff aufgehängt nicht nur für warme Hände sorgte, sondern jedem noch so alten Überkleid eine gewisse Eleganz verlieh.
»Leonard!« Atemlos fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn stürmisch. Er räusperte sich gerührt und entzog sich sanft ihrer Umarmung. Ohne ein Wort wandte sie sich schließlich zur Tür. Ihre Wangen glühten rosig vor Stolz, als sie die engen Stiegen in den eiskalten Flur vorausging.
Leonard folgte ihr mit einem unguten Gefühl im Bauch. Pater Ge-orgi Gapon, die Galionsfigur des augenblicklichen Widerstandes, hatte zu einer Kundgebung vor dem Winterpalast des Zaren aufgerufen, und so wie es hieß, würden ihm Tausende, wenn vielleicht Hunderttausende folgen. Und Jekatherina Davydova würde eine von ihnen sein. Mit einem leisen Seufzer begleitete Leonard sie nach draußen.
Vor der Haustür empfing sie eine lausige Kälte. Die Schneedecke war dagegen für diese Jahreszeit erstaunlich dünn. Ein undurchdringlicher Nebel zog von der Newa über die Stadt und machte es den Sonnenstrahlen unmöglich, den gefrorenen Boden aufzuweichen.
Jakov Eisenstein zog missbilligend eine seiner buschigen Brauen hoch, als er sah, dass Leonard in weiblicher Begleitung das dreistöckige Mietshaus verließ und sich anschickte, mit ihr die Sytninskaja Ulitsa hinunterzueilen. Mit einem Schnauben stellte er den Besen beiseite und rückte seinen Streimel, den obligatorischen pelzumrandeten Hut der orthodoxen Juden, zurecht, bevor er Leonards Ärmel zu fassen bekam und ihn zwang, stehen zu bleiben.
»Wissen Ihre Eltern eigentlich, was Sie in Petersburg treiben?« Seine Stimme war alt und krächzend - aber nicht weniger schneidend. »Ich dulde es nicht, wenn man in meinem Haus Damenbesuch empfängt und schon gar nicht unter solch unmoralischen Umständen.«
Jekatherina rümpfte ihr Näschen und ignorierte die Bemerkung des Alten geflissentlich. Leonard, an dessen Arm sie sich untergehakt hatte, war für einen Moment pflichtbewusst stehen geblieben. Dass ihn die Äußerungen des Alten peinlich berührten, konnte man ihm mühelos ansehen.
»Ich denke, über dieses Thema sollten wir heute Abend, wenn ich zurück bin, unter vier Augen reden«, antwortete er Eisenstein leise. »Vielleicht sind Sie mit einer kleinen Mieterhöhung einverstanden?«
Der Alte ließ von ihm ab und wandte sich zeternd um. Verstehen konnte man ihn nicht. Nur an seinem bebenden weißen Bart, der sich auf seiner Brust in zwei gespinstartige Spitzen teilte, war zu sehen, dass er kopfschüttelnd etwas in sich hineinmurmelte.
Es war erst Mittag; die Kundgebung sollte in den frühen Nachmittagsstunden auf dem weitläufigen Gelände vor dem Zarenpalast stattfinden.
Schon jetzt waren zahllose Menschen, junge und alte, auf den Beinen; Fahnen schwingend und mit Transparenten versehen; Mütter mit ihren Kindern, aber auch Väter, in deren Gesichtern sich eine Mischung aus Furcht, Hoffnung und Verzweiflung spiegelte. Dazwischen drängten sich Verkäufer, die mit ihren beheizbaren Bauchläden geröstete Sonnenblumenkerne verkauften, und ältere Frauen, die Baranki und Würste feilboten, dazu Kwass, den traditionellen Brottrunk, den sie aus abgescheuerten Holzkannen ausschenkten.
Überall lagen Flugblätter auf den Straßen, die eine Bittschrift enthielten, die Pater Gapon in Gegenwart des Zaren vorzubringen beabsichtigte: »Wir, die Arbeiter der Stadt Sankt Petersburg, unsere Frauen, Kinder und hilflosen alten Eltern, sind zu Dir, Herrscher, gekommen, um Gerechtigkeit und Schutz zu suchen. Wir sind verelendet, wir werden unterdrückt, über unsere Kraft mit Arbeit belastet, man verhöhnt uns, lässt uns nicht als Menschen gelten. Man behandelt uns wie Sklaven. Wir duldeten all dies, aber man stößt uns immer weiter und weiter in den Pfuhl der Armut, der Rechtlosigkeit und der Unwissenheit. Despotismus und Willkür würgen uns, und wir ersticken. Unsere Kräfte versagen, Herrscher, unsere Geduld ist erschöpft. Wir sind bei dem furchtbaren Augenblick angelangt, in dem der Tod willkommener ist als die Fortsetzung der unerträglichen Qualen ...«
Angeblich sollte es eine friedliche Kundgebung werden, begleitet von frommen Gesängen und stetig dahin gemurmelten Gebeten. Für mehr Rechte für die Bauern und um die Abschaffung der heimlichen Leibeigenschaft wollte man bitten. Denn offiziell erfreuten sich die Menschen in Russland einer unumstößlichen Freiheit, doch in Wahrheit waren die meisten von ihnen geknechtete Kreaturen, die jeden Tag mit ihrer Hände Arbeit ums nackte Überleben kämpften.
Leonard ließ sich von Katja in die entgegengesetzte Richtung mitziehen. Offenbar wusste sie, wo sie hinwollte. An hohen Mietskasernen und unzähligen Teestuben vorbei ging es Richtung Wassiljewskij-Insel, dort, wo die alte Universität lag und die Straßen keine Namen hatten, sondern in Linien unterteilt waren. An berittenen Kosaken vorbei drängten sie sich über den Tutschkow-Most, eine verhältnismäßig breite Hebe-Brücke, die über die kleine Newa führte und die Petrograder Seite, auf der Leonard wohnte, mit der Universitätsinsel verband.
Im Laufschritt eilten sie über den Malyj-Prospekt.
»Kannst du mir sagen, wo du hin willst?« Leonard fühlte sich unbehaglich. Etwas Bedrohliches lag in der Luft. Vielleicht war es der Hauch der Revolution, vielleicht aber waren es auch die Ausdünstungen von all den armen und heruntergekommenen Demonstranten, die sich ihnen abgemagert und zerlumpt entgegendrängten.
»Ich habe meinem Bruder versprochen, ihn am Friedhof hinter der Kirche der Heiligen Mutter zu treffen.«
»Sag mir, was er vorhat!« Leonard war stehen geblieben, seine Hände gruben sich in Katjas schmale Oberarme. Er war ein ganzes Stück größer als sie und beugte sich weit genug hinunter, bis sich ihre Atemwölkchen vermischten. Sein Blick war so konzentriert auf ihre dunklen Augen gerichtet, als ob er sie beschwören wollte.
»Lass mich los!«, giftete sie ihn wütend an. »Du tust mir weh. Und außerdem geht es dich nicht mehr an als eine Ladung Pferdemist, was Alexej mit mir ausmacht. Solange wir nicht verheiratet sind, gehörst du nicht zur Familie.«
Ihre Worte trafen ihn hart, und für einen Moment stellte sich Leonard die Frage, ob ihn diese Feststellung traurig oder zornig machte.
Mit einem Seufzer setzte er ihre Begleitung fort, als Katja in ihrem flatternden Mantel regelrecht davonstob, die kleinen Füße in den groben Stiefeln, so schnell wie der Kleine Muck in Hauffs Märchen.
Doch es war keine Märchenwelt, in die sie sich hineinbegab. Das wurde Leonard spätestens klar, als sie ihr Ziel erreichten. Ein Mitglied der Davydov-Bande, wie Leonard Alexejs persönliche Schergen nannte, wartete bereits auf sie, genauer gesagt, auf Katja.
»Hast du die Pläne bei dir?«, fragte er.
Katja nickte kaum merklich und zog ein zerknittertes Stück Papier aus ihrer Manteltasche. Leonard schnappte nach Luft, als er sah, dass es sich um eine ziemlich genaue Beschreibung der einzigen hier befindlichen Waffenwerkstatt handelte. Die Firma Schaff war ein deutsches Traditionsunternehmen, das unter deutscher Leitung nicht nur exzellente Lang- und Faustfeuerwaffen herstellte, sondern sie auch wartete und reparierte. Verteilt auf mehrere Gebäude und Etagen gab es Lagerund Produktionshallen, alle umgeben von einer steinernen Mauer.
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