Diese Sendung erkannten die auf den Fall Moore angesetzten Kriminalbeamten sofort wieder. Ähnliche gestohlene Ausweiskarten - und ähnlich gut gelaunte Mitteilungen - waren nach allen bisherigen Morden eingetroffen. Der Täter wusste, wann seine Opfer allein waren. Er folterte sie, vor allem durch Bisse; er vergewaltigte oder missbrauchte sie sexuell; er ermordete sie; er schickte ihre Ausweise einige Wochen oder Monate später an irgendeine Polizeidienststelle. Verspottete sie damit.
Um sicherzustellen, dass die Tat ihm zugeschrieben wird, dachte Darcy bedrückt.
Im Jahr 2004 hatte Beadie einen weiteren Mord verübt, dann seinen neunten und zehnten im Jahr 2007. Diese beiden waren die scheußlichsten gewesen, weil eines der Opfer ein Kind gewesen war. Der zehnjährige Sohn der Frau war wegen Magenschmerzen aus der Schule heimgeschickt worden und hatte Beadie offenbar bei der Arbeit überrascht. Die Leiche des Jungen war mit der seiner Mutter in einem Bach aufgefunden worden. Als die Ausweise der Frau - zwei Kreditkarten und ein Führerschein - bei der Massachusetts State Police eingegangen waren, hatte auf der beigelegten Karte gestanden: HALLO! DER JUNGE WAR EIN UNFALL! SORRY! ABER ES IST SCHNELL GEGANGEN, ER MUSSTE NICHT »LEIDEN«! BEADIE!
Es gab viele weitere Artikel, die sie hätte aufrufen können (o allmächtiges Google), aber zu welchem Zweck? Der süße Traum von einem weiteren gewöhnlichen Abend in einem gewöhnlichen Leben war in einem Albtraum untergegangen. Würde er sich vertreiben lassen, indem sie mehr über Beadie las? Die Antwort darauf lag auf der Hand.
Ihre Magennerven verkrampften sich. Sie rannte ins Bad - in dem es trotz des Ventilators noch immer schlecht roch; meistens konnte man ignorieren, was für eine übelriechende Sache das Leben war, aber eben nicht immer -, sank vor dem WC auf die Knie und starrte mit offenem Mund in das blau gefärbte Wasser. Einen Augenblick lang glaubte sie, sich doch nicht übergeben zu müssen, dann dachte sie an Stacey Moore, deren Kopf mit schwarz angelaufenem Gesicht im Mais steckte und deren Gesäßbacken mit angetrocknetem Blut von der Farbe von Schokoladenmilch bedeckt waren. Das gab ihr den Rest. Sie übergab sich zweimal so heftig, dass ihr Gesicht Spritzer des blauen Desinfektionsmittels Ty-D-Bol und von ihrem eigenen Erbrochenen abbekam.
Weinend und keuchend, betätigte sie die Klospülung. Das WC würde geputzt werden müssen, aber vorerst schloss sie nur den Deckel und legte ihre heiße Wange auf den kühlen beigefarbenen Kunststoff.
Was soll ich nur tun?
Der naheliegende erste Schritt wäre ein Anruf bei der Polizei gewesen, aber was war, wenn sich nach diesem Anruf alles als Irrtum herausstellte? Bob war immer der großzügigste und am wenigsten nachtragende aller Männer gewesen - als sie mit ihrem alten Van einen Baum am Rand des Parkplatzes vor der Post gerammt hatte, so dass die Windschutzscheibe zersplittert war, hatte er nur besorgt gefragt, ob sie Schnittwunden im Gesicht habe -, aber würde er ihr verzeihen, dass sie ihm elf grausame Morde zutraute, die er
Darcy raffte sich auf, nahm die Klobürste aus dem Ständer und machte das WC sauber. Sie arbeitete langsam. Ihr Rücken schmerzte. Anscheinend hatte sie sich so heftig übergeben, dass sie sich eine Muskelzerrung zugezogen hatte.
Während sie arbeitete, traf die nächste Erkenntnis sie wie ein Keulenschlag. Nicht nur Bob und sie würden in Pressespekulationen und den schmutzigen Spülzyklus von 24-stündigen Kabelnachrichten hineingezogen werden; sie musste auch an die Kinder denken. Donnie und sein Freund Ken hatten eben die ersten Kunden gewonnen, aber die Bank und der Autohändler auf der Suche nach neuen Ideen würden binnen drei Stunden abspringen, wenn diese Scheißebombe platzte. Die Firma Anderson & Hayward, die heute ihren ersten richtigen Atemzug getan hatte, würde morgen tot sein. Darcy wusste nicht, wie viel Ken Hayward investiert hatte, aber Donnie hatte alles eingebracht, was er besaß. Das war zwar nicht allzu viel Kapital, aber man investierte auch andere Dinge, wenn man die eigene Lebensreise begann. Sein Herz, seinen Verstand, sein ganzes Selbstwertgefühl.
Außerdem gab es Petra und Michael, die vielleicht in diesem Augenblick die Köpfe zusammensteckten und weitere Heiratspläne schmiedeten, ohne zu ahnen, dass ein Zweitonnengeldschrank an einem stark ausgefransten Seil über ihnen hing. Pets hatte ihren Vater immer vergöttert. Was würde sie tun, wenn sie erfuhr, dass die Hände, die sie früher auf der Gartenschaukel angestoßen hatten, elf Frauen erwürgt hatten? Dass sich unter den Lippen, die ihr Gutenachtküsse gegeben hatten, Zähne verbargen, die elf Frauen gebissen hatten, in einigen Fällen bis auf die Knochen?
Als Darcy wieder am Computer saß, stieg vor ihrem inneren Auge eine schreckliche Schlagzeile auf. Darunter war ein Foto abgebildet, das Bob mit seinem Halstuch, absurden Khakishorts und braunen Kniestrümpfen zeigte. Die Schlagzeile war so deutlich, als wäre sie schon gedruckt:
MASSENMÖRDER »BEADIE«
17 JAHRE LANG PFADFINDERFÜHRER
Darcy schlug sich eine Hand vor den Mund. Sie konnte spüren, wie ihre Augen in den Höhlen pulsierten. Sie dachte an Selbstmord, und einige Augenblicke lang (die ihr endlos vorkamen) erschien ihr diese Idee völlig rational, die einzig vernünftige Lösung. Sie konnte in einem Abschiedsbrief behaupten, sie habe gefürchtet, Krebs zu haben. Oder früh einsetzende Alzheimer-Krankheit, das war noch besser. Nur warfen auch Selbstmorde tiefe Schatten über eine Familie - und was war, wenn sie sich geirrt hatte? Wenn Bob die drei Ausweiskarten irgendwo am Straßenrand gefunden hatte?
Weißt du, wie unwahrscheinlich das ist?, höhnte die Clevere Darcy.
Okay, ja, aber unwahrscheinlich war nicht das Gleiche wie unmöglich, oder? Und es gab noch etwas, was den Käfig, in dem sie steckte, endgültig ausbruchssicher machte: Was war, wenn sie recht hatte? Würde ihr Selbstmord Bob nicht die Möglichkeit geben, noch mehr zu morden, weil er dann kein Doppelleben mehr würde führen müssen? Darcy wusste nicht genau, ob sie an eine bewusste Existenz nach dem Tod glaubte, aber wenn es eine gab? Und wenn dort nicht elysisches Grün und Flüsse, in denen Milch und Honig floss, auf sie warteten, sondern ein gespenstisches Empfangskomitee aus erwürgten Frauen mit Bissspuren von Bobs Zähnen, die ihr alle vorwarfen, an ihrem Tod
Sie dachte: Ich wollte, ich wäre tot.
Aber das war sie nicht.
Zum ersten Mal seit Jahren glitt Darcy Madsen Anderson von ihrem Stuhl auf die Knie und begann zu beten. Das half nichts. Sie blieb im Haus ganz allein.
7
Sie hatte nie Tagebuch geführt, aber in ihrem Schreibtisch bewahrte sie noch alle Terminkalender der letzten zehn Jahre auf. Und Bobs Reiseunterlagen, die Jahrzehnte zurückreichten, füllten mehrere Ordner in dem Aktenschrank, der in seinem Büro hier im Haus stand. Als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater (noch dazu mit einer ordnungsgemäß als Firma eingetragenen Nebenbeschäftigung) führte er seine Aufzeichnungen pedantisch genau und nahm jede Möglichkeit, etwas steuerlich abzusetzen, jeden Freibetrag und jeden Cent an Autoabschreibung mit, den er bekommen konnte.
Sie stapelte seine Ordner mit ihren Terminkalendern neben dem Computer. Sie rief nochmals Google auf, zwang sich zu den erforderlichen Recherchen und notierte sich die Namen und den Todeszeitpunkt (manchmal notwendigerweise bloß geschätzt) von Beadies Opfern. Während die Digitaluhr in der Taskleiste ihres Computers lautlos die
Sie hätte zehn Jahre ihres Lebens dafür gegeben, irgendetwas zu finden, was ihn auch nur in einem Fall unwiderlegbar als möglichen Täter eliminierte, aber ihre Terminkalender machten alles noch schlimmer. Kellie Gervais aus Keene, New Hampshire, war am 15. März 2004 im Wald hinter der örtlichen Mülldeponie aufgefunden worden. Seit drei bis fünf Tagen tot, wie der Leichenbeschauer in seinem Bericht festgestellt hatte. In Darcys Terminkalender für 2004 war für den 10. bis 12. März groß eingetragen: Bob bei Fitzwilliam, Brat. George Fitzwilliam war ein reicher Mandant von Benson, Bacon & Anderson. Brat war ihre Abkürzung für Fitzwilliams Wohnort Brattleboro. Von dort aus war Keene, New Hampshire, mit dem Auto leicht zu erreichen.
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