Bob Anderson, das hatte Darcy entdeckt, konnte sich in andere hineinversetzen, wie es nur wenige Menschen konnten. Er hatte zwar keinen Bruder, keine Schwester verloren, aber seinen besten Freund. Der Junge war auf die Straße gelaufen, um einen beim Pick-up-Baseball danebengegangenen Ball zu fangen (wenigstens nicht Bobs Wurf; da er
»Bleib in Vermont, Bob. Geh zu der Nachlassversteigerung. Ich liebe dich dafür, dass du besorgt bist, aber wenn du jetzt heimgerannt kommst, komme ich mir kindisch vor. Und dann werde ich wütend.«
»Okay. Aber ich rufe dich morgen früh um halb acht an. Du bist gewarnt!«
Sie lachte und hörte erleichtert, dass das echt klang … wenigstens so real, dass kein Unterschied zu erkennen war. Und weshalb sollte ihr kein richtiges Lachen gestattet sein? Warum zum Teufel eigentlich nicht? Sie liebte ihn und würde die Unschuldsvermutung für ihn gelten lassen. Rückhaltlos. Ihr blieb gar nichts anderes übrig. Man konnte Liebe nicht abstellen - sogar die geistesabwesende, oft als selbstverständlich vorausgesetzte Liebe nach siebenundzwanzig Ehejahren -, wie man einen Wasserhahn zudrehte. Liebe kam aus dem Herzen, und das Herz hatte seine eigenen Erfordernisse.
»Bobby, du rufst immer um halb acht an.«
»Schuldig im Sinne der Anklage. Ruf mich jederzeit an, wenn du …«
»… etwas brauchst, und wenn’s noch so spät ist«, ergänzte Darcy für ihn. Jetzt fühlte sie sich fast wieder wie sie selbst. Wirklich erstaunlich, wie viele schwere Schläge die menschliche Psyche einstecken konnte, ohne am Boden zerstört zu sein. »Das tue ich.«
»Liebe dich, Schatz.« Die Schlussformel so vieler Telefongespräche über die Jahre hinweg.
»Liebe dich auch«, sagte sie lächelnd. Dann legte sie den Hörer auf, drückte die Stirn an die Wand und begann zu weinen, bevor das Lächeln ihr Gesicht verlassen konnte.
6
Ihr Computer, ein iMac, der alt genug war, um modisch retro zu wirken, stand im Hauswirtschaftsraum. Sie benutzte ihn selten für etwas anderes als E-Mails und eBay, aber jetzt öffnete sie Google und tippte den Namen Marjorie Duvall ein. Sie zögerte, bevor sie auch Beadie in das Suchfeld schrieb, aber nicht lange. Wozu die quälenden Zweifel künstlich verlängern? Er würde in diesem Zusammenhang ohnehin auftauchen, dessen war sie sich sicher. Sie drückte die Eingabetaste, und während sie zusah, wie der kleine Wartekreis sich immer wieder um sich selbst drehte, kamen die Krämpfe von vorhin zurück. Sie lief ins Bad, sank aufs WC und bedeckte ihr Gesicht dort sitzend mit den Händen. Auf der Innenseite der Badezimmertür klebte ein großer Spiegel, in dem sie sich nicht sehen wollte. Wieso war er überhaupt dort? Wieso hatte sie zugelassen , dass er dort war? Wer wollte sich auf dem Topf sitzen sehen? Selbst in besten Zeiten, zu denen dieser Abend ganz sicher nicht gehörte?
Darcy kehrte langsam an ihren Computer zurück, schlurfte dahin wie ein Kind, das genau wusste, dass es eine Strafe für etwas zu erwarten hatte, was ihre Mutter etwas gaaanz Schlimmes genannt hätte. Sie sah, dass Google über fünf Millionen Suchergebnisse geliefert hatte: O allmächtiges Google, so freigebig und so schrecklich. Über das erste musste sie jedoch tatsächlich lachen; es forderte sie auf, Marjorie Duvall Beadie auf Twitter zu verfolgen. Darcy
Das zweite Ergebnis kam vom Portland Press-Herald , und als Darcy es anklickte, war das Foto, das sie begrüßte (nur fühlte diese Begrüßung sich wie eine Ohrfeige an), die Aufnahme, an die sie sich aus dem Fernsehen erinnerte - und vermutlich aus genau diesem Artikel, weil der Press-Herald ihre Zeitung war. Der Bericht war vor zehn Tagen erschienen und damals der Aufmacher gewesen. FRAU AUSNEW HAMPSHIRE KÖNNTE »BEADIES« ELFTES OPFER GEWESEN SEIN,verkündete die Schlagzeile. Und darunter: Polizeisprecher: »Wir sind uns zu 90 Prozent sicher.«
Auf dem Zeitungsfoto sah Marjorie Duvall viel hübscher aus: Es war eine Atelieraufnahme, die sie in klassischer Pose in einem schulterfreien schwarzen Chiffonabendkleid zeigte. Sie trug das Haar offen und war auf diesem Bild viel heller blond. Darcy fragte sich, ob ihr Ehemann dieses Foto zur Verfügung gestellt hatte. Sie vermutete, dass er es getan hatte. Sie vermutete, es habe im Haus 17 Honey Lane auf dem Kaminsims gestanden oder in der Diele gehangen. Die attraktive Dame des Hauses, die die Gäste mit ihrem ewigen Lächeln begrüßte.
Gentlemen bevorzugen Blondinen, weil sie nicht warten wollen, bis sie schwarz werden.
Eine von Bobs Redensarten. Diese hatte sie nie sehr gemocht, und sie hasste es, sie jetzt im Kopf zu haben.
Marjorie Duvall war sechs Meilen von ihrem Haus in South Gansett entfernt in einer Schlucht knapp jenseits der Stadtgrenze von North Conway aufgefunden worden. Der County Sheriff spekulierte, der Tod sei wahrscheinlich durch Erwürgen eingetreten, aber das könne er nicht mit Bestimmtheit sagen; diese Feststellung sei Sache des Leichenbeschauers
Das ergab eine natürliche Überleitung zu einer vollständigen Aufzählung der bisherigen Morde. Der erste hatte sich im Jahr 1977 ereignet. Im Jahr 1978 hatte es zwei gegeben, einen weiteren 1980 und zwei weitere 1981. Zwei der Morde waren in New Hampshire verübt worden, zwei in Massachusetts, der fünfte und sechste in Vermont. Danach war eine Pause von sechzehn Jahren eingetreten. Die Polizei vermutete, dass eines von drei Ereignisse eingetreten war: Beadie war innerhalb Amerikas umgezogen und ging seinem Hobby nun andernorts nach, Beadie war wegen einer anderen Straftat verurteilt worden und saß im Gefängnis, oder Beadie hatte Selbstmord verübt. Wie ein Psychiater ausführte, den der Reporter für seine Story befragt hatte, sei als Einziges nicht wahrscheinlich, dass Beadie seiner Verbrechen überdrüssig geworden sei. »Solche Kerle langweilen sich nicht«, sagte der Psychiater. »Das ist ihr Sport, ein für sie unwiderstehlicher Drang. Mehr noch, es ist ihr geheimes Leben.«
Ihr geheimes Leben. Was für ein vergiftetes Bonbon dieser Ausdruck war.
Beadies sechstes Opfer war eine Frau aus Barre gewesen, die der Fahrer eines Schneepflugs in der Woche vor Weihnachten in einer Schneewehe entdeckt hatte. Was für ein Weihnachten das für ihre Angehörigen gewesen sein muss, dachte Darcy. Nicht dass ihr eigenes Weihnachten in jenem Jahr viel erfreulicher gewesen wäre. Sie hatte schrecklich
Dann war Bob Anderson mit einem Lächeln auf den Lippen in ihr Leben getreten - Bob, der sie zum Mitkommen eingeladen und sich nicht hatte abwimmeln lassen. Das musste kein Vierteljahr nach dem Tag gewesen sein, an dem der Schneepflugfahrer das letzte Opfer aus Beadies »erstem Zyklus« entdeckt hatte. Sie hatten sich verliebt. Und Beadie hatte sechzehn Jahre lang nicht mehr gemordet.
Ihretwegen? Weil er sie liebte? Weil er aufhören wollte, gaaanz schlimme Dinge zu tun?
Oder nur ein Zufall? Auch das wäre denkbar.
Netter Versuch, aber die Plastikkarten, die sie in der Garage versteckt gefunden hatte, machten die Vorstellung, alles könnte ein Zufall gewesen sein, weit weniger wahrscheinlich.
Beadies siebtes Opfer, das erste aus seinem »neuen Zyklus«, wie die Zeitung schrieb, war Stacey Moore gewesen, eine Frau aus Waterville, Maine. Ihr Mann hatte sie in ihrem Keller aufgefunden, als er aus Boston zurückgekommen war, wo er sich mit Freunden ein paar Spiele der Red Sox angesehen hatte. Das war im August 1997 gewesen. Ihr Kopf hatte in einem Kasten mit Zuckermais gesteckt, den die Moores an der Route 106 frisch von der Farm verkauften.
Zwei Tage später waren Stacey Moores Führerschein und ihre Blue-Cross-Karte von einem Gummiband zusammengehalten in Augusta eingetroffen - in Druckschrift an BLÖDMANN JUSTIZMINNISTER ABT. KRINIMAL-ERMITTLUNGEN adressiert. Beigelegt war eine Mitteilung: HALLO! BIN WIEDER DA! BEADIE!
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