Sie lief in die Garage zurück, ohne diesmal die Aufschläge des Hausmantels zuzuhalten. Die äußere Kälte spürte sie nicht mehr, weil die innere größer war. Dazu kam die Bleikugel, die ihre Eingeweide nach unten zog. Sie in die Länge zog. Darcy war sich vage bewusst, dass sie auf die Toilette musste, sogar dringend.
Nicht jetzt! Reiß dich zusammen. Stell dir vor, du wärst auf der Turnpike und hättest noch zwanzig Meilen bis zur nächsten Raststätte. Sieh zu, dass du fertig wirst. Lass alles so zurück, wie es war. Dann kannst du …
Dann konnte sie was? Alles vergessen?
Nicht sehr wahrscheinlich.
Sie schlang das Gummiband um die Ausweiskarten, merkte, dass der Führerschein irgendwie wieder obenauf gelangt war, und schalt sich eine blöde Schlampe … ein beleidigender Ausdruck, für den sie Bob geohrfeigt hätte, wenn er jemals versucht hätte, ihn ihr anzuhängen. Aber das hatte er natürlich nie getan.
»Eine blöde Schlampe, aber keine Bondage-Schlampe«, murmelte sie, und dann durchzuckte ein Krampf ihren Bauch. Sie sank auf die Knie und erstarrte in dieser Haltung, während sie darauf wartete, dass er abklang. Hätte es hier eine Toilette gegeben, wäre sie hingeflitzt, aber es gab keine. Als der Krampf nachließ - widerstrebend -, ordnete sie die Karten in der wahrscheinlich richtigen Reihenfolge an (Blutspender, Bibliothek, Führerschein) und legte sie dann in das Kästchen für MANSCHETTENKNÖPFE zurück. Kassette wieder in das Versteck. Drehbarer Fußleistenabschnitt fest angedrückt. Karton mit Katalogen dorthin zurück, wo sie über ihn gestolpert war: ein bisschen unter der Werkbank hervorstehend. Bob würde nie etwas merken.
Aber konnte sie sich dessen sicher sein? Wenn er war, was sie dachte - ungeheuerlich, dass sie an so etwas überhaupt denken konnte, wenn sie vor kaum einer halben Stunde nur ein paar Batterien für die verflixte Fernbedienung hatte holen wollen -, wenn er das war , dann war er seit langer Zeit sehr vorsichtig gewesen. Und er war umsichtig, er war pedantisch, er war der originale Mr. Saubermann, aber wenn er das war, worauf diese verflixten (nein, gottverdammten ) Plastikkarten schließen ließen, musste er übernatürlich vorsichtig sein. Übernatürlich wachsam. Verschlagen.
Das war ein Wort, das sie bis zum heutigen Abend niemals mit Bob in Verbindung gebracht hatte.
»Nein«, erklärte sie der Garage. Sie schwitzte, ihr Haar klebte in unschönen Strähnen an ihrem Gesicht, sie litt Mein Mann ist nicht Beadie. «
Sie ging ins Haus zurück.
5
Sie beschloss, sich einen Tee zu machen. Tee war beruhigend. Als sie den Teekessel füllte, begann das Telefon wieder zu klingeln. Sie ließ den Kessel in den Ausguss fallen - sein Scheppern war so laut, dass sie einen kleinen Schrei ausstieß -, ging dann ans Telefon und wischte sich die nassen Hände am Hausmantel ab.
Ruhig, ruhig, ermahnte sie sich. Wenn er ein Geheimnis bewahren kann, dann kannst du das auch. Denk daran, dass es eine vernünftige Erklärung für das alles gibt …
Ach, wirklich?
… die du nur noch nicht kennst. Du brauchst Zeit, um über alles nachzudenken. Also: Ruhig.
Darcy nahm den Hörer ab und sagte munter: »Wenn du’s bist, Hübscher, dann kannst du gleich rüberkommen. Mein Mann ist verreist.«
Bob lachte. »He, Schatz, wie geht’s dir?«
»Aufrecht und die Luft schnüffelnd. Und dir?«
Darauf folgte langes Schweigen. Es fühlte sich jedenfalls lange an, obwohl es nicht länger als ein paar Sekunden gedauert haben konnte. In diesem Zeitraum hörte Darcy das irgendwie schreckliche Summen des Kühlschranks, das Wasser, das auf den Teekessel im Ausguss tropfte, und den Puls des eigenen Herzens, dessen Schläge nicht aus der Brust, sondern aus Kehle und Ohren zu kommen
»Deine Stimme klingt komisch«, sagte er. »Irgendwie ganz belegt. Alles in Ordnung, Süße?«
Sie hätte gerührt sein sollen. Stattdessen war sie verängstigt. Marjorie Duvall: Dieser Name stand ihr nicht nur vor Augen, sondern schien wie die Neonreklame einer Bar zu blinken. Sie war einen Augenblick lang sprachlos, und zu ihrem Entsetzen schwankte die Küche, die sie so gut kannte, vor ihren Augen, als ihr abermals die Tränen kamen. Auch die krampfartige Schwere im Unterleib kehrte zurück. Marjorie Duvall. Blutgruppe A Rhesus positiv. 17 Honey Lane. Nach dem Motto: Hallo, Schatz, wie geht’s, wie steht’s, aufrecht und die Luft schnüffelnd?
»Ich musste nur gerade an Brandolyn denken«, hörte sie sich selbst sagen.
»Oh, Baby«, sagte er, und das Mitgefühl in seiner Stimme war typisch für Bob. Sie kannte es gut. Hatte sie sich seit 1984 nicht oft darauf verlassen? Sogar schon vorher, als er noch um sie geworben und sie allmählich erkannt hatte, dass er der Richtige war? Gewiss hatte sie das getan. Wie er sich auf sie gestützt hatte. Die Idee, solches Mitgefühl könnte nichts als Zuckerguss auf einer vergifteten Torte sein, war verrückt. Die Tatsache, dass sie ihn in diesem Augenblick belog, war noch verrückter. Das heißt, falls es überhaupt Abstufungen von Verrücktheit gab. Oder vielleicht war »verrückt« ein Begriff wie »einzigartig«, für den es keine Steigerungsformen gab. Und was dachte sie wirklich? Was, um Himmels willen?
Aber er redete, und sie hatte keine Ahnung, was er eben gesagt hatte.
»Erzähl’s mir noch mal. Ich habe gerade nach meinem Tee gegriffen.« Noch eine Lüge, ihre Hände waren viel zu zittrig, um nach irgendetwas greifen zu können, aber eine plausible Notlüge. Und ihre Stimme zitterte nicht. Wenigstens glaubte sie das.
»Ich habe gefragt: Wie bist du darauf gekommen?«
»Donnie hat angerufen und nach seiner Schwester gefragt. Dabei habe ich an meine denken müssen. Ich bin rausgegangen und ein bisschen herumgelaufen. Ich bin ins Schniefen gekommen, aber daran war zum Teil auch die Kälte schuld. Das hast du wahrscheinlich in meiner Stimme gehört.«
»Ja, sofort«, sagte er. »Hör zu, ich könnte morgen Burlington auslassen und gleich nach Hause kommen.«
Darcy hätte beinahe Nein! gerufen, aber das wäre genau die falsche Reaktion gewesen. Sie konnte bewirken, dass er bei Tagesanbruch losfuhr, ganz der besorgte Ehemann.
»Wenn du das tust, verpasse ich dir ein blaues Auge«, sagte sie und war erleichtert, als er lachte. »Charlie Frady hat dir erzählt, dass es sich lohnt, zu dieser Nachlassversteigerung in Burlington zu fahren, und er hat gute Kontakte. Und einen guten Riecher. Das hast du immer selbst gesagt.«
»Genau, aber mir gefällt es nun mal nicht, wenn du so deprimiert klingst.«
Dass er gespürt hatte (und zwar sofort! sofort! ), dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war, war schlecht. Dass sie hatte lügen müssen, was den Grund dafür betraf … ach, das war noch schlimmer. Sie schloss die Augen, sah Bad Bitch Brenda unter der schwarzen Kapuze schreien, und öffnete sie wieder.
»Ich war ein bisschen down, aber das ist vorbei«, sagte sie. »Nur eine vorübergehende Anwandlung. Sie war meine
»Ja, ich weiß«, sagte er. Wohl wahr. Der Tod ihrer Schwester war zwar nicht der Grund dafür gewesen, dass sie sich in Bob Anderson verliebt hatte, aber sein Verständnis für ihren Kummer hatte ihren Zusammenhalt gestärkt.
Brandolyn Madsen war beim Langlaufen von einem betrunkenen Schneemobilfahrer angefahren und tödlich verletzt worden. Er hatte Fahrerflucht begangen und die Tote eine halbe Meile vom Haus der Familie Madsen entfernt im Wald liegen lassen. Als Brandi um acht Uhr abends noch nicht zurück war, waren zwei Polizeibeamte und die örtliche Bürgerwehr zu einer Suchaktion aufgebrochen. Darcys Vater hatte die Leiche gefunden und durch den Wald nach Hause getragen. Darcy, die im Wohnzimmer stationiert war, um das Telefon zu überwachen und ihre Mutter zu beruhigen, hatte ihn als Erste gesehen. Er hatte weiße Atemwolken ausgestoßen, als er im harten Licht des Wintervollmonds über den Rasen gekommen war. Darcys erster Gedanke (der ihr noch heute peinlich war) war eine Erinnerung an die kitschigen Liebesfilme in Schwarz-Weiß gewesen, die manchmal auf dem TCM-Spielfilmkanal gezeigt wurden - in denen irgendein Kerl seine Frischangetraute über die Schwelle ihres Flitterwochenhäuschens trug, während fünfzig Violinen Sirup auf die Tonspur gossen.
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