Sie hätte den Karton einfach mit dem Innenrist unter die Werkbank zurückschieben können - das würde sie später erkennen und angestrengt darüber nachgrübeln wie ein Mathematiker, der eine abstrus komplizierte Gleichung zu lösen versuchte. Schließlich hatte sie es eilig. Aber sie sah oben in dem Karton einen Strickwarenkatalog von Patternworks und kniete nieder, um ihn an sich zu raffen und mit den Batterien ins Haus mitzunehmen. Aber als sie ihn herausnahm, lag darunter ein Katalog von Brookstone, den sie verlegt zu haben glaubte. Und darunter Paula Young … Talbots … Forzieri … Bloomingdale’s …
»Bob!«, rief sie, nur kam sein Name in zwei empörten Silben heraus (wie manchmal, wenn er Schmutz ins Haus schleppte oder seine nassen Handtücher auf dem Fußboden im Bad liegen ließ, als wäre dies ein Luxushotel mit Zimmermädchen), nicht wie Bob , sondern als BO-hob! Weil sie wirklich in ihm lesen konnte wie in einem Buch. Er fand, sie bestelle zu viel aus Versandhauskatalogen, hatte einmal sogar behauptet, sie sei süchtig nach ihnen (was lächerlich war; es waren Butterfinger, nach denen sie süchtig war). Diese kleine psychologische Analyse hatte ihm eine zweitägige kalte Schulter eingebracht. Aber er wusste, wie ihr Verstand arbeitete und dass sie bei Dingen, die nicht unbedingt lebenswichtig waren, das originale »Aus den Augen, aus dem Sinn«-Mädchen war. Daher hatte er ihre Kataloge eingesammelt, der Leisetreter, und hier aufbewahrt. Als Nächstes wären sie vermutlich in den Papiercontainer geflogen.
Danskin … Express … Computer Outlet … Macworld … Monkey Ward … Layla Grace …
Je tiefer sie grub, desto empörter wurde sie. Man hätte glauben können, sie stünden wegen ihrer Verschwendungssucht Two and a Half Men war längst vergessen; sie überlegte bereits, wie sie Bob die Meinung sagen würde, wenn er aus Montpelier anrief (er rief immer an, wenn er zu Abend gegessen hatte und wieder in seinem Motel war). Aber als Erstes würde sie alle diese Kataloge in das verflixte Haus zurückschaffen, auch wenn sie dazu drei- oder viermal gehen musste, weil der Stapel mindestens einen halben Meter hoch und diese Hochglanzkataloge schwer waren. Wirklich kein Wunder, dass sie über den Karton gestolpert war.
Tod durch Kataloge, dachte sie. Was für eine verrückte Art, aus dem Leben …
Dieser Gedanke brach so sauber ab wie ein dürrer Ast. Sie hatte beim Nachdenken weitergeblättert, war jetzt im zweiten Viertel des Stapels und stieß unter Gooseberry Patch (County Décor) auf etwas, das kein Katalog war. Nein, überhaupt kein Katalog. Es war ein Magazin, das Bondage Bitches hieß. Sie nahm es beinahe nicht heraus und hätte es vermutlich nicht angefasst, wenn sie es in einer seiner Schubladen oder in dem oberen Fach bei den Wunderhaarwuchsmitteln gefunden hätte. Aber weil sie es hier fand, in einem Stapel von mindestens zweihundert Katalogen - ihren Katalogen - versteckt … nun, darin lag etwas, was über die Verlegenheit hinausging, die ein Mann wegen bizarrer sexueller Vorlieben empfinden mochte.
Die Frau auf dem Cover war an einen Stuhl gefesselt und bis auf eine schwarze Kapuze nackt, aber die Kapuze bedeckte nur ihre obere Gesichtshälfte, so dass zu sehen war, wie sie schrie. Sie war mit dicken Stricken gefesselt, die in Brüste und Bauch einschnitten. An Kinn, Hals und Armen hatte sie Theaterblut. Unten auf dem Cover stand in schrillem Gelb eine widerliche Anpreisung: BAD BITCH BRENDA WOLLTE ES HABEN UND KRIEGT ES AUF SEITE 49!
Darcy hatte nicht die Absicht, Seite neunundvierzig oder irgendeine andere Seite aufzuschlagen. Sie erklärte sich bereits selbst, was das war: männlicher Forscherdrang . Darüber Bescheid wusste sie aus einem Artikel im Cosmo , den sie beim Zahnarzt im Wartezimmer gelesen hatte. Eine Frau hatte an einen der vielen Ratgeber der Zeitschrift geschrieben (in diesem Fall an die fest angestellte Psychologin, die auf das oft rätselhafte Sexualleben von Männern spezialisiert war), weil sie im Aktenkoffer ihres Mannes ein paar Schwulenmagazine gefunden hatte. Sehr deutliche Darstellungen, hatte die Leserin geschrieben, und nun mache sie sich Sorgen, ihr Mann könne heimlich schwul sein. Aber wenn er das sei, fügte sie hinzu, verberge er das im Schlafzimmer recht gut.
Keine Sorge, sagte die Briefkastentante. Männer seien von Natur aus abenteuerlustig, und viele von ihnen interessierten sich für sexuelle Verhaltensweisen, die alternativ - schwuler Sex an erster Stelle, gleich dahinter Gruppensex - oder fetischistisch seien: Natursekt, Crossdressing, Sex in der Öffentlichkeit, Latex. Und natürlich Bondage. Sie hatte hinzugefügt, es gebe auch Frauen, die von Bondage fasziniert seien, was Darcy ein Rätsel gewesen war, aber sie hätte als Erste zugegeben, nicht alles zu wissen.
Männlicher Forscherdrang, mehr steckte nicht dahinter. Vielleicht hatte er das Magazin an irgendeinem Zeitungsstand gesehen (als Darcy sich diesen speziellen Titel an einem Zeitungsstand vorzustellen versuchte, streikte allerdings ihr Verstand) und war neugierig gewesen. Oder vielleicht hatte er es in einem Tankstellenshop aus einem Abfallkorb geangelt. Er hatte es mit nach Hause genommen, hatte es hier draußen in der Garage durchgeblättert, war ebenso entsetzt gewesen wie sie (das Blut an dem Penthouse - sie wusste, dass die meisten Männer auf Spitzen und Seide standen, und Bob war da keine Ausnahme -, aber nichts mehr im Genre von Bondage Bitches .
Als sie den Titel erneut betrachtete, fiel ihr etwas Seltsames auf: Er trug keinen Preisaufdruck. Auch keinen Strichcode. Weil sie neugierig war, was solch ein Magazin kosten konnte, sah sie sich die Rückseite an und zuckte wegen des dortigen Bildes noch mal zusammen: eine nackte Blondine war auf etwas festgeschnallt, was ein stählerner Operationstisch zu sein schien. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck wirkte jedoch ungefähr so echt wie ein Dreidollarschein, was irgendwie beruhigend war. Und der Dicke, der mit etwas, was wie ein Ginsu-Messer aussah, über ihr stand, sah mit den Armstulpen und dem Lederslip ebenso lächerlich aus - mehr wie ein Buchhalter als jemand, der gleich die Bondage Bitch du jour zerstückeln würde.
Bob ist ein Buchhalter, warf ihr Verstand ein.
Ein dummer Gedanke aus dem leider nur allzu großen Dummen Bereich ihres Gehirns. Sie schob ihn von sich weg, genau wie sie das bemerkenswert widerliche Magazin wieder unter die Kataloge schob, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass auch hinten kein Preis aufgedruckt war. Und als sie den Karton unter die Werkbank zurückschob - sie wollte die Kataloge nun doch nicht ins Haus mitnehmen -, fiel ihr die Lösung des Kein-Preis/kein-Strichcode-Rätsels ein. Es handelte sich um eines der Magazine, die in einer festen Plastikhülle verkauft wurden, die
Vielleicht hat er es übers Internet gekauft. Bestimmt gibt es Anbieter, die auf solchen Schund spezialisiert sind. Von jungen Frauen, die wie Zwölfjährige angezogen und zurechtgemacht sind, ganz zu schweigen.
»Schon gut«, sagte sie und nickte einmal knapp. Damit wäre das erledigt, abgehakt, aus und vorbei. Würde sie ihren Fund am Telefon erwähnen, wenn er später anrief - oder nach seiner Rückkehr -, würde er beschämt und defensiv reagieren. Er würde sie wahrscheinlich sexuell naiv nennen, was sie vermutlich auch war, und ihr eine Überreaktion vorwerfen, die sie aber unbedingt vermeiden wollte. Was sie tun wollte, war: Roll widdit, Baby. Eine Ehe glich einem ständig im Bau befindlichen Haus, das jedes Jahr um neue Zimmer erweitert wurde. Eine Ehe im ersten Jahr war ein Cottage; nach siebenundzwanzig Jahren war sie eine riesige, weitläufige Villa. Darin musste es Winkel und Lagerräume geben, von denen manche ein paar unangenehme Relikte enthielten, die man lieber nicht gefunden hätte. Aber das war kein Drama. Man warf diese Relikte auf den Müll oder gab sie für karitative Zwecke im Goodwill Store ab.
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