Aber sie glaubte es zu wissen.
Die Spalten befanden sich an beiden Enden eines zwanzig Zentimeter langen Abschnitts der Fußbodenleiste, durch den eine senkrechte Mittelachse zu führen schien, so dass er sich drehen ließ. Sie hatte ihn mit dem Karton hinreichend angestoßen, dass er etwas aufgesprungen war, aber damit war das Poltern noch nicht erklärt. Sie drückte gegen ein Ende des Abschnitts. Es schwang nach innen, und das andere Ende kam heraus, so dass ein Versteck sichtbar wurde, das zwanzig Zentimeter breit, dreißig hoch und ungefähr
Sie griff hinein, bekam das Kästchen zu fassen - mit bösen Vorahnungen, die fast greifbar waren - und holte es heraus. Das Kästchen war die kleine Kassette aus Eichenholz, die sie ihm vor fünf oder vielleicht mehr Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Oder war es zu einem Geburtstag gewesen? Das wusste Darcy nicht mehr, nur dass sie ein guter Kauf im Kunstgewerbeladen in Castle Rock gewesen war. Ihr Deckel war mit einer handgeschnitzten Kette im Flachrelief geschmückt. Unter der Kette stand, ebenfalls in Flachrelief, der Verwendungszweck der Kassette: MANSCHETTENKNÖPFE .Bob hatte eine Menge Manschettenknöpfe, und obwohl er werktags lieber Hemden mit Knöpfmanschetten trug, waren manche davon recht hübsch. Sie erinnerte sich, dass sie gedacht hatte, diese Kassette würde ihm helfen, sie ordentlich aufzubewahren. Darcy wusste, dass das Kästchen noch eine Zeit lang auf der Kommode in seiner Hälfte des Schlafzimmers gestanden hatte, nachdem das Geschenk ausgepackt und gebührend bewundert worden war, aber sie konnte sich nicht erinnern, es in letzter Zeit gesehen zu haben. Natürlich hatte sie das nicht. Es war hier draußen, in diesem Versteck unter seiner Werkbank, und sie hätte Haus und Hof verwettet (wieder eine von Bobs Redensarten), dass sie keine Manschettenknöpfe finden würde, wenn sie den Deckel aufklappte.
Dann sieh nicht hinein.
Wieder ein guter Rat, aber sie war nun schon viel zu weit gegangen, um ihn zu beherzigen. Als sie das Holzkästchen
Lass sie leer sein. Bitte, Gott, wenn du mich liebst, lass sie leer sein.
Aber das war sie nicht. Sie enthielt drei von einem Gummiband zusammengehaltene Plastikkarten. Darcy nahm den kleinen Packen heraus und fasste ihn nur mit spitzen Fingern an - wie eine Frau einen Putzlappen anfassen würde, von dem sie befürchtet, er könnte außer Schmutz auch Keime enthalten. Dann streifte sie das Gummiband ab.
Es waren keine Kreditkarten, wie sie zunächst vermutet hatte. Obenauf lag ein Blutspenderausweis des Roten Kreuzes, der auf eine Marjorie Duvall ausgestellt war. Ihre Blutgruppe war A Rhesus positiv, ihre Region Neuengland. Darcy drehte die Karte um und sah, dass Marjorie - wer immer das war - zuletzt am 16. August 2010 Blut gespendet hatte. Vor drei Monaten.
Wer zum Teufel war Marjorie Duvall? Woher kannte Bob sie? Und weshalb hatte sie eine schwache, aber sehr deutliche Erinnerung an diesen Namen?
Die nächste Karte war Marjorie Duvalls Bibliotheksausweis für die North Conway Library, auf dem auch ihre Adresse stand: 17 Honey Lane, South Gansett, New Hampshire.
Die letzte Plastikkarte war Marjorie Duvalls Führerschein aus New Hampshire. Sie sah wie eine ganz durchschnittliche Amerikanerin Mitte dreißig aus, nicht sehr hübsch (allerdings sah auf Führerscheinfotos niemand besonders vorteilhaft aus), aber vorzeigbar. Zurückgekämmtes dunkelblondes Haar, zu einem Nackenknoten oder Pferdeschwanz zusammengefasst; auf dem Foto war das
Darcy merkte, dass sie ein trostloses wimmerndes Geräusch machte. Es war entsetzlich, einen solchen Laut aus ihrer Kehle kommen zu hören, aber sie konnte nicht damit aufhören. Und ihr Magen war durch eine Bleikugel ersetzt worden; sie zog alle ihre inneren Organe herab und dehnte sie in neue, unangenehme Formen. Sie hatte Marjorie Duvalls Gesicht in der Zeitung gesehen. Auch in den Sechsuhrnachrichten.
Mit Händen, die absolut gefühllos waren, schlang sie das Gummiband wieder um die Ausweiskarten, legte sie in die Kassette zurück und schob sie in das Versteck zurück. Sie war im Begriff, es wieder zu verschließen, als sie sich sagen hörte: »Nein, nein, nein, das stimmt nicht. Ausgeschlossen!«
War das die Stimme der Cleveren Darcy oder der Dummen Darcy? Schwer zu sagen. Sicher wusste sie nur, dass die Dumme Darcy die Kassette geöffnet hatte. Und dank der Dummen Darcy stürzte sie jetzt ins Bodenlose.
Sie holte das Kästchen wieder heraus. Dachte dabei: Das ist ein Irrtum, es muss einer sein, wir sind über die Hälfte unseres Lebens miteinander verheiratet, ich würde es wissen, ich würde es wissen. Klappte den Deckel auf. Dachte: Kann man einen anderen wirklich kennen?
Vor diesem Abend hätte sie das fest geglaubt.
Marjorie Duvalls Führerschein lag jetzt auf dem kleinen Stapel obenauf. Zuvor hatte er unten gelegen. Darcy tat ihn dorthin. Aber welche der beiden anderen Karten hatte oben gelegen, der Blutspender- oder der Bibliotheksausweis? Das war einfach, es musste einfach sein, wenn es nur zwei Möglichkeiten gab, aber sie war zu durcheinander, um sich erinnern zu können. Sie legte den Bibliotheksausweis obendrauf und wusste gleich, dass das falsch war, weil
Sie tat sie dorthin, und als sie das Gummiband wieder um die kleine Kartenkollektion schlang, klingelte im Haus auf einmal wieder das Telefon. Das war er . Das war Bob, der aus Vermont anrief, und wäre sie in der Küche gewesen, um den Anruf entgegenzunehmen, hätte sie seine fröhliche Stimme (eine Stimme, die sie so gut kannte wie ihre eigene) fragen gehört: He, Schatz, wie geht’s dir?
Ihre Finger zuckten, und das Gummiband riss. Es flog weg, und sie schrie auf, ob aus Frustration oder Angst, konnte sie nicht sagen. Aber warum hätte sie Angst haben sollen? In siebenundzwanzig Ehejahren hatte er niemals die Hand gegen sie erhoben, außer um sie zu liebkosen. Und nur ganz wenige Male war er im Streit laut geworden.
Das Telefon klingelte noch mal … noch mal … dann brach das Klingeln mitten im Ton ab. Jetzt würde er eine Nachricht hinterlassen. Hab dich wieder verpasst! Verdammt! Ruf mich an, damit ich mir keine Sorgen mache, okay? Die Nummer ist …
Er würde auch seine Zimmernummer angeben. Bob überließ nichts dem Zufall, setzte nichts als gegeben voraus.
Was sie dachte, konnte niemals wahr sein. Es glich einer dieser monströsen Wahnvorstellungen, die manchmal grausig plausibel aus dem Bodensatz der menschlichen Psyche glitzernd auftauchten: dass ein Sodbrennen der Vorbote eines Herzanfalls war, Kopfschmerzen einen Tumor bedeuteten und Petras Sonntagnachmittagsanruf deshalb ausgeblieben war, weil sie einen Verkehrsunfall gehabt hatte und in irgendeinem Krankenhaus im Koma lag. Aber solche Wahnvorstellungen kamen gewöhnlich um vier Uhr morgens,
Sie fand es schließlich hinter dem Karton mit den Katalogen, die sie sich nie mehr ansehen wollte. Darcy steckte es ein, wollte aufstehen, um ein anderes zu suchen, hatte vergessen, wo sie war, und schlug sich den Kopf an der Unterseite der Werkbank an. Sie begann zu weinen.
In keiner der Werkbankschubladen fanden sich Gummibänder, und das ließ sie noch heftiger weinen. Sie hastete mit den schrecklichen, unerklärlichen Ausweiskarten in der Tasche ihres Hausmantels durch den Verbindungsgang zurück und holte ein Gummiband aus der Küchenschublade, in der sie allen möglichen halb nützlichen Scheiß aufbewahrte: Büroklammern, Bindedraht, Kühlschrankmagnete, die den größten Teil ihrer Magnetkraft verloren hatten: Einer davon, auf dem DARCY IST DER CHEF stand, war einmal eine zusätzliche Kleinigkeit von Bob zu Weihnachten gewesen.
Das Signallämpchen des Telefons auf der Arbeitsplatte blinkte stetig, um Nachricht, Nachricht, Nachricht zu melden.
Читать дальше