Solche Dinge basierten auf Gegenseitigkeit; was dem einen dieses Jahr recht war, war dem anderen nächstes Jahr billig. Sie hatte mit ihm im St. Stephen’s Hospital im Wartezimmer gesessen - das war 1994 oder 95 gewesen -, um auf das Ergebnis der Gewebeuntersuchung zu warten, nachdem er (beim Duschen) eine verdächtige Schwellung unter
Der Anblick eines Kreuzworträtselhefts auf seinen Knien, das durch die halb geöffnete Badezimmertür zu sehen war, während er auf der Toilette saß. Der Geruch von Rasierwasser auf seinen Wangen, der bedeutete, dass der Suburban ein bis zwei Tage nicht in ihrer Einfahrt stehen und seine Hälfte des Betts ein bis zwei Nächte leer bleiben würde, weil er die Buchhaltung irgendeiner Firma in Vermont oder New Hampshire in Ordnung bringen musste (B, B & A hatte jetzt Klienten in allen nördlichen Neuenglandstaaten. Manchmal bedeutete der Duft eine Reise zur Besichtigung einer Münzsammlung bei einer Nachlassversteigerung, weil nicht alle An- und Verkäufe ihrer numismatischen Nebentätigkeit am Computer abgewickelt werden konnten, das wussten sie beide. Der Anblick seines alten schwarzen Rollenkoffers, den er hartnäckig behielt, sosehr sie auch nörgelte, im Dielenschrank. Seine Pantoffeln am Fußende des Betts, einer immer in den anderen gesteckt. Das Glas Wasser mit der orangeroten Vitaminpille daneben auf der neuesten Ausgabe von Coin & Currency Collecting . Wie er immer »draußen ist mehr Platz als drinnen« sagte, wenn er gerülpst hatte, und »Vorsicht, Gasangriff!«, nachdem er einen hatte fahrenlassen. Sein Mantel am ersten Haken in der Diele. Das Bild seiner Zahnbürste im Spiegel (er hätte weiter die aus dem ersten Ehejahr benutzt, glaubte Darcy, wenn sie sie nicht regelmäßig ersetzt hätte). Seine Angewohnheit, sich beim Essen nach jedem zweiten oder dritten Bissen die Lippen mit der Serviette abzutupfen. Sein sorgfältig gepacktes Marschgepäck (immer mit einem zusätzlichen Kompass), bevor Stan und er mit einer Gruppe von Neunjährigen den Dead Man’s Trail in
Sie wusste, dass er seine eigene Geschichte von ihr haben musste: mit allem von dem Lippenbalsam mit Zimtgeschmack, den sie im Winter benutzte, bis zum Duft ihres Shampoos, wenn er ihren Nacken küsste (das passierte jetzt nicht mehr so oft, aber hin und wieder doch), und dem Klicken ihrer Computertastatur um zwei Uhr morgens in jenen zwei bis drei Nächten im Monat, in denen sie aus irgendeinem Grund keinen Schlaf fand.
Jetzt waren es siebenundzwanzig Jahre oder - sie hatte sich eines Tages damit amüsiert, das mit der Rechnerfunktion ihres Computers auszurechnen - neuntausendachthundertfünfundfünfzig Tage. Fast eine Viertelmillion Stunden und über vierzehn Millionen Minuten. Natürlich war er zur Arbeit außer Haus gewesen, und sie hatte selbst einige Reisen gemacht (die traurigste nach Minneapolis, um bei ihren Eltern zu sein, nachdem ihre Schwester Brandolyn auf tragische Weise tödlich verunglückt war), aber meistens waren sie zusammen gewesen.
Wusste sie alles über ihn? Natürlich nicht. So wenig, wie er alles über sie wusste - beispielsweise wie sie manchmal (meist an Regentagen oder in den Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte) Butterfinger oder Baby Ruths verschlang, weiter Schokoriegel in sich hineinstopfte, wenn sie schon längst keine mehr wollte, sogar noch, wenn ihr davon bereits schlecht war. Oder dass sie den neuen Briefträger irgendwie süß fand. Alles konnte man niemals wissen, aber sie glaubte, nach siebenundzwanzig Jahren alles
Bis zu jener Nacht in der Garage.
2
Die TV-Fernbedienung gab den Geist auf, und im Küchenschrank links neben dem Ausguss fanden sich keine AA-Batterien. Dort lagen Batterien der Größen C und D, sogar eine ungeöffnete Packung der klitzekleinen AAA-Batterien, aber keine verflixten Drecksbatterien der Größe AA. Also ging sie in die Garage hinaus, weil sie wusste, dass Bob dort Duracells gebunkert hatte, und das war alles, was erforderlich war, um ihr gesamtes Leben zu verändern. Als ob jeder in der Luft wäre, hoch oben in der Luft. Ein lächerlicher kleiner Schritt in die falsche Richtung, und schon stürzte man ab.
Zwischen Küche und Garage verlief ein gedeckter Verbindungsgang. Darcy hastete ihn entlang, hielt sich den Hausmantel mit einer Hand am Hals zu - vor zwei Tagen war das lange außergewöhnlich warme Spätherbstwetter umgeschlagen, und jetzt schien es eher November als Oktober zu sein. Der Wind schnappte nach ihren Fesseln. Sie hätte lieber Socken und eine Hose anziehen sollen, aber Two and a Half Men würde in weniger als fünf Minuten kommen, und der verflixte Fernseher steckte bei CNN fest. Wäre Bob da gewesen, hätte sie ihn gebeten, das Programm manuell zu wechseln - dafür gab es irgendwo Knöpfe, vermutlich auf der Rückseite, wo sie nur ein Casa Anderson verantwortlich.
Sie fummelte nach den drei Schaltern neben der Tür, fand sie und drückte sie mit dem Handballen hoch. Die Neonröhren an der Decke flammten summend auf. Die Garage war geräumig und sauber, das Werkzeug hing an Haken in Lochplatten, und Bobs Werkbank war ordentlich aufgeräumt. Der Zementestrich des Fußbodens war in Schlachtschiffgrau gestrichen. Auf dem Fußboden waren keine Ölflecken zu sehen, Bob sagte, Ölflecken bedeuteten, dass die Leute, denen die Garage gehörte, Schrottautos fuhren oder Wartungsarbeiten schlampig ausführten. Der ein Jahr alte Prius, mit dem er werktags nach Portland pendelte, stand hier; nach Vermont war er mit seinem SUV-Dinosaurier gefahren, der schon viele Meilen auf dem Tacho hatte. Ihr Volvo war draußen geparkt.
»Es ist genauso leicht reinzufahren«, hatte Bob mehr als einmal gesagt (nach siebenundzwanzig Ehejahren waren originelle Kommentare eher dünn gesät). »Du brauchst nur den Toröffner an der Sonnenblende zu benutzen.«
»Ich habe ihn lieber dort, wo ich ihn sehen kann«, antwortete sie immer, obwohl sie in Wirklichkeit befürchtete, sie könnte beim Zurückstoßen den linken oder rechten Torrahmen streifen. Sie hasste das Rückwärtsfahren. Und sie vermutete, dass er das wusste … genau wie sie wusste, dass er merkwürdig zwanghaft darauf achtete, Banknoten immer richtig herum in seine Geldbörse zu stecken, und nie ein
Wenigstens war die Garage warm; große silberne Blechröhren (wahrscheinlich hießen sie Warmluftkanäle, aber Darcy war sich ihrer Sache nicht ganz sicher) verliefen kreuz und quer unter der Decke. Sie trat an die Werkbank, auf der mehrere sauber beschriftete quadratische Blechdosen aufgereiht waren: SCHRAUBEN, MUTTERN, SCHARNIERE, HASPEN & WINKEL, DICHTUNGEN und - das fand sie geradezu rührend - KRIMSKRAMS. An der Wand hing ein Kalender mit einer Badenixe aus Sports Illustrated , die deprimierend jung und sexy aussah; links neben dem Kalender waren mit Reißzwecken zwei Fotos befestigt. Eines war ein alter Schnappschuss von Donnie und Petra auf dem Little-League-Feld in Yarmouth, beide in Trikots der Boston Red Sox. Darunter hatte Bob mit Magic Marker DIE HEIMMANNSCHAFT, 1999geschrieben. Das andere Foto, viel neuer, zeigte die fast zu einer Schönheit herangewachsene Petra mit ihrem Verlobten Michael, der einen Arm um sie gelegt hatte, in Old Orchard Beach vor einem Muschelstand. Unter diese Aufnahme hatte Bob mit Magic Marker geschrieben: DAS GLÜCKLICHE PAAR!
Das Schränkchen mit den Batterien trug einen Dymo-Tape-Streifen mit dem Wort ELEKTROKRAM und hing links neben den Fotos. Darcy bewegte sich in diese Richtung, ohne darauf zu achten, wohin sie ging - weil sie sich auf Bobs fast manische Ordnungsliebe verließ -, und stolperte über einen nicht ganz unter die Werkbank geschobenen Karton. Sie taumelte und klammerte sich dann im letzten Augenblick an die Werkbank. Sie brach sich dabei einen Fingernagel ab - schmerzhaft und ärgerlich -, bewahrte sich aber vor einem hässlichen Sturz, was gut war. Sehr gut, wenn man bedachte, dass niemand im Haus gewesen wäre, um die Notrufnummer zu wählen, wenn sie
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