Janet hörte auf, Streeter zum Abendessen bei Tom zu begleiten. »Ich halte das nicht aus«, gestand sie ihm. »Es liegt nicht daran, wie Carl schlurft oder sich manchmal in die Hose macht … es ist der Blick in seinen Augen, als würde er sich erinnern, wie er war, und nicht genau wissen, wie hoffnungsvoller Ausdruck, der mir das Gefühl gibt, das ganze Leben sei ein Witz.«
Streeter wusste, was sie meinte, und dachte beim Abendessen mit seinem alten Freund (seit Norma nicht mehr da war, gab es meistens Take-away-Gerichte) oft über diese Vorstellung nach. Ihm machte es Spaß, Tom dabei zuzusehen, wie er seinen behinderten Sohn fütterte, und er genoss den hoffnungsvollen Ausdruck auf Carls Gesicht. Er schien zu besagen: »Das ist alles nur ein Traum, den ich habe, und ich werde bald aufwachen.« Jan hatte recht, das war ein Witz, aber irgendwie ein guter Witz.
Wenn man richtig darüber nachdachte.
Im Jahr 2004 bekam May Streeter einen Job beim Boston Globe und erklärte sich zum glücklichsten Mädchen der USA. Justin Streeter entwickelte »Rock the House«, das ein Dauerseller wurde, bis »Guitar Hero« es obsolet machte, aber inzwischen war Jus längst dabei, eine Kompositionssoftware namens »You Moog Me, Baby« zu entwickeln. Streeter selbst wurde zum Leiter seiner Bankfiliale ernannt, was ein Sprungbrett zu einem Regionalposten sein konnte. Er flog mit Janet nach Cancún, wo sie sich fabelhaft amüsierten. Sie fing an, ihn »mein Schmusehäschen« zu nennen.
Toms Chefbuchhalter bei Goodhugh Waste Recycling unterschlug zwei Millionen Dollar und verschwand mit unbekanntem Ziel. Die anschließende Buchprüfung zeigte, dass das Unternehmen finanziell auf sehr wackligen Beinen stand; diese Ratte von einem Buchhalter hatte anscheinend seit Jahren an dem Käse geknabbert.
Geknabbert?, dachte Streeter, als er die Meldung in den Derry News las. Jedes Mal kräftig reingebissen dürfte eher stimmen.
Tom sah nicht mehr wie Mitte dreißig, sondern wie sechzig aus. Und das schien er zu wissen, weil er aufgehört hatte, sich das Haar zu färben. Streeter war entzückt, als er sah, dass es unter der künstlichen Farbe nicht weiß geworden war; Goodhughs Haar war so stumpf und glanzlos grau wie Elvids Schirm, als er ihn zusammengerollt hatte. Die Haarfarbe, überlegte Streeter sich, der alten Männer, die man auf Parkbänken sitzen und die Tauben füttern sieht. Nennen wir sie einfach Just for Losers .
Im Jahr 2005 lernte Jacob der Footballspieler, der in der untergehenden Firma seines Vaters arbeitete, statt aufs College zu gehen (an dem er mit einem vollen Sportstipendium hätte studieren können), ein Mädchen kennen und heiratete es. Eine muntere kleine Brünette namens Cammy Dorrington. Das Ehepaar Streeter war sich darüber einig, es sei eine schöne Feier gewesen, obwohl Carl Goodhugh die ganze Zeit gejohlt, gebrabbelt und gegurgelt hatte und obwohl Goodhughs Älteste - Gracie - beim Hinausgehen auf der Treppe vor der Kirche über den Saum ihres Kleides stolperte, stürzte und sich einen doppelten Beinbruch zuzog. Bis dahin hatte Tom Goodhugh fast wie früher ausgesehen. Mit anderen Worten: glücklich. Streeter neidete ihm das bisschen Glück nicht. Er vermutete, dass selbst arme Sünder im Fegefeuer gelegentlich einen Schluck Wasser bekamen, und sei es nur, damit sie den ganzen Schrecken ungestillten Dursts würdigen konnten, wenn er wieder einsetzte.
Die Flitterwöchner flogen nach Belize. Wetten, dass es dort die ganze Zeit regnet, dachte Streeter. Das tat es zwar nicht, aber Jacob verbrachte den größten Teil der Woche in einem heruntergekommenen Krankenhaus, litt an einem heftigen Brechdurchfall und kackte in Papierwindeln. Er hatte nur abgefülltes Wasser getrunken, sich aber ein einziges
Im Irak fielen über achthundert US-Soldaten. Pech für diese Jungs und Mädels.
Tom Goodhugh bekam Gicht, begann zu humpeln, fing an, einen Stock zu benutzen.
Der diesjährige Scheck für den Überkonfessionellen Kinderfonds war verdammt hoch, aber Streeter reute das viele Geld nicht. Geben war seliger denn Nehmen. Das sagten alle guten Leute.
Im Jahr 2006 erkrankte Toms Tochter Gracie an Eiterfluss und verlor sämtliche Zähne. Außerdem verlor sie den Geruchssinn. An einem Abend kurz danach, bei Goodhughs und Streeters wöchentlichem Dinner (bei dem die beiden allein waren; Carls Betreuer war mit seinem Schützling auf einem »Ausflug«), brach Tom Goodhugh unvermittelt in Tränen aus. Statt Microbrews trank er jetzt Bombay Sapphire Gin und war ziemlich betrunken. »Ich verstehe nicht, was mit mir passiert ist!«, schluchzte er. »Ich komme mir vor wie … ich weiß nicht … wie der gottverdammte Hiob !«
Streeter umarmte und tröstete ihn. Er erklärte seinem alten Freund, dass die Wolken immer aufziehen, sich aber früher oder später wieder verziehen.
»Na ja, diese Wolken hängen schon beschissen lange hier!«, rief Goodhugh aus und hämmerte mit der geballten Faust auf Streeters Rücken. Aber das störte Streeter nicht. Sein alter Freund war nicht mehr so stark wie früher.
Charlie Sheen, Tori Spelling und David Hasselhoff ließen sich scheiden, aber in Derry feierten David und Janet Streeter ihren dreißigsten Hochzeitstag. Es gab eine große Party. Gegen Ende zu führte Dave seine Frau in den Garten. Er hatte ein Feuerwerk bestellt. Alle klatschten, nur Carl Goodhugh nicht. Er versuchte es, aber seine Hände
Im Jahr 2007 wurde Kiefer Sutherland wegen Trunkenheit am Steuer zu einer Haftstrafe verurteilt (nicht zum ersten Mal), und Gracie Goodhugh-Dickersons Ehemann kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ein betrunkener Autofahrer geriet auf die Gegenfahrbahn, auf der Andy Dickerson aus dem Büro heimfuhr. Die gute Nachricht war, dass der Betrunkene nicht Kiefer Sutherland war. Die schlechte Nachricht war, dass Gracie Dickerson im vierten Monat schwanger und pleite war. Ihr Mann hatte seine Lebensversicherung gekündigt, um Geld zu sparen. Gracie zog wieder bei ihrem Vater und ihrem Bruder Carl ein.
»Bei ihrem Pech wird das Baby missgebildet geboren«, sagte Streeter eines Nachts, als er neben seiner Frau im Bett lag, nachdem sie miteinander geschlafen hatten.
»Still!«, rief Janet schockiert aus.
»Wenn man’s sagt, trifft’s nicht ein«, behauptete Streeter, und wenig später schliefen die beiden Schmusehäschen in enger Umarmung ein.
Der diesjährige Scheck für den Kinderfonds belief sich auf dreißigtausend Dollar. Streeter schrieb ihn ohne Gewissensbisse aus.
Gracies Baby wurde im Februar 2008 mitten in einem Schneesturm geboren. Die gute Nachricht war, dass es nicht missgebildet war. Die schlechte Nachricht war, dass es eine Totgeburt war. Dieser verdammte in der Familie liegende Herzfehler. Gracie - ohne Zähne, ohne Ehemann und ohne Geruchssinn - verfiel in eine tiefe Depression. Streeter fand, das beweise ihre grundlegende geistige Gesundheit. Wäre sie »Don’t Worry, Be Happy« pfeifend herumgelaufen, hätte
Ein Flugzeug mit zwei Musikern der Rockband blink-182 stürzte ab. Schlechte Nachricht, vier Tote. Gute Nachricht, diesmal überlebten die Rocker zur Abwechslung … obwohl einer von ihnen später Selbstmord verüben würde.
»Ich habe Gott gegen mich aufgebracht«, sagte Tom bei einem der Dinner, die die beiden Männer jetzt ihre »Junggesellenabende« nannten. Streeter hatte Spaghetti von Cara Mama mitgebracht und seinen Teller leergegessen. Tom Goodhugh hatte sein Essen kaum angerührt. Nebenan sahen Gracie und Carl American Idol , Grace finster schweigend, der frühere Emerson-Student johlend und brabbelnd. »Ich weiß nicht, wodurch, aber ich hab’s getan.«
»Sag das nicht, weil es nämlich nicht stimmt.«
»Das weißt du nicht.«
»Doch, ich weiß es«, sagte Streeter nachdrücklich. »Du redest dummes Zeug.«
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