Ganz einfach gesagt: Sie müssen jemanden ins Unglück stürzen, wenn das Unglück von Ihnen genommen werden soll.
Aber eine einzige Pille gegen Bluthochdruck zu klauen hieß nicht gerade, einen Menschen ins Unglück zu stürzen. Oder doch?
Elvid klappte unterdessen energisch seinen großen Schirm zusammen. Und als er eingerollt war, fiel Streeter eine erstaunliche und entmutigende Tatsache auf: Er war überhaupt nicht gelb. Er war so grau wie der Himmel. Der Sommer war fast vorbei.
»Die meisten meiner Kunden sind völlig zufrieden, völlig glücklich. Wollten Sie das hören?«
Gewiss … und doch wieder nicht.
»Ich spüre, dass Sie noch eine relevante Frage haben«, sagte Elvid. »Wenn Sie eine Antwort wollen, müssen Sie aufhören, um den heißen Brei herumzuschleichen, und sie stellen. Es wird bald regnen, und ich will vorher unter Dach sein. Das Letzte, was ich in meinem Alter brauche, ist eine Bronchitis.«
»Wo ist Ihr Auto?«
»Oh, war das Ihre Frage?« Elvid verhöhnte ihn jetzt offen. Sein Gesicht war hager, nicht im Geringsten pummelig, und das Weiße der leicht schräg stehenden Augen ging außen in ein unangenehmes und - ja, so war es - krebsartiges Schwarz über. Er sah wie der halb abgeschminkte unfreundlichste Clown der Welt aus.
»Ihre Zähne«, sagte Streeter benommen. »Sie haben Spitzen .«
»Ihre Frage, Mr. Streeter?«
»Wird Tom Goodhugh Krebs bekommen?«
Elvid starrte ihn einen Augenblick an, dann fing er zu kichern an. Der Laut war keuchend, staubig und unangenehm - wie das Geräusch einer verstummenden Dampforgel.
»Nein, Dave«, antwortete er. »Tom Goodhugh bekommt keinen Krebs. Nicht er .«
»Was dann? Was?«
Die Verachtung, mit der Elvid ihn musterte, bewirkte, dass Streeters Knochen sich schwach anfühlten - als hätte irgendeine schmerzlose, aber schrecklich korrosive Säure Löcher in sie hineingefressen. »Was kümmert Sie das? Sie hassen ihn, das haben Sie selbst gesagt.«
»Aber …«
»Sehen Sie zu. Warten Sie ab. Genießen Sie. Und nehmen Sie das hier.« Er gab Streeter eine Geschäftskarte. Unter dem Namen ÜBERKONFESSIONELLER KINDERFONDS stand die Adresse einer Bank auf den Kaimaninseln.
»Steueroase«, sagte Elvid. »Dorthin überweisen Sie meine fünfzehn Prozent. Wenn Sie schummeln, kriege ich das raus. Und dann wehe Ihnen, Kiddo!«
»Was ist, wenn meine Frau dahinterkommt und Fragen stellt?«
»Ihre Frau hat ein eigenes Scheckbuch. Mehr interessiert sie nicht. Sie verlässt sich auf Sie. Habe ich recht?«
»Nun …« Streeter sah, ohne überrascht zu sein, dass die Regentropfen, die Elvids Hände und Arme trafen, zischend verdampften. »Ja.«
»Natürlich habe ich recht. Wir sind fertig miteinander. Verschwinden Sie, fahren Sie zu Ihrer Frau zurück. Sie haben sie weiß Gott nicht verdient, aber ich bin mir sicher, dass sie Sie mit offenen Armen empfangen wird. Gehen Sie mit ihr ins Bett. Stellen Sie sich vor, Sie würden die Frau Ihres besten Freundes bumsen. Sie haben sie nicht verdient, aber Sie sind ein Glückspilz.«
»Was wäre, wenn ich es zurücknehmen wollte?«, flüsterte Streeter.
Elvid bedachte ihn mit einem kalten Grinsen, das einen Ring aus spitzen Kannibalenzähnen sehen ließ. »Das können Sie nicht.«
Das war im August 2001, weniger als einen Monat vor dem Einsturz der Twin Towers.
Im Dezember (am selben Tag, an dem Winona Ryder wegen Ladendiebstahls festgenommen wurde) erklärte Dr. Roderick Henderson Dave Streeter offiziell für krebsfrei - und außerdem für ein echtes Wunder der Neuzeit.
»Ich weiß keine Erklärung dafür«, sagte Henderson.
Streeter wusste eine, hielt aber den Mund.
Dieses Gespräch fand in Hendersons Praxis statt. In dem kleinen Sprechzimmer im Derry Home Hospital, in dem Streeter die ersten Bilder seines auf wundersame Weise geheilten Körpers gesehen hatte, saß Norma Goodhugh auf demselben Stuhl und betrachtete weniger erfreuliche Schichtaufnahmen. Sie hörte benommen zu, als ihr Arzt ihr mitteilte - so schonend wie möglich -, der Knoten in ihrer linken Brust sei tatsächlich Krebs, der bereits die Lymphdrüsen erfasst habe.
»Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos«, sagte der Arzt und ergriff über den Tisch hinweg Normas kalte Hand. Er lächelte. »Wir sollten sofort mit der Chemotherapie beginnen.«
Im Juni des folgenden Jahres wurde Streeter endlich befördert. May Streeter wurde zum Graduiertenstudium an der Columbia School of Journalism zugelassen. Um beides zu feiern, holten Streeter und seine Frau einen lange verschobenen Urlaub auf Hawaii nach. Sie schliefen oft miteinander. An ihrem letzten Tag auf Maui rief Tom Goodhugh an.
»Wir sind für dich da«, versprach Streeter ihm.
Als er Janet die traurige Nachricht mitteilte, brach sie auf dem Bett zusammen und weinte mit vors Gesicht geschlagenen Händen. Streeter legte sich neben sie, hielt sie eng umarmt und dachte: Tja, wir wollten ohnehin heimfliegen. Und obwohl ihm Norma leidtat (und er Tom irgendwie bedauerte), hatte die Sache auch etwas Gutes: Sie hatten die Insektensaison verpasst, die in Derry scheußlich sein konnte.
Im Dezember schickte Streeter dem Überkonfessionellen Kinderfonds einen Scheck über etwas mehr als fünfzehntausend Dollar. In seiner Steuererklärung setzte er diesen Betrag als Spende ab.
Im Jahr 2003 schaffte Justin Streeter es an der Brown University auf die Liste des Dekans und erfand - nur so zum Spaß - ein Computerspiel, das er »Walk Fido Home« nannte. Zweck des Spiels war es, mit seinem angeleinten Hund aus dem Einkaufszentrum zurückzukommen und dabei Kamikazefahrern, Gegenständen, die von Balkonen im zehnten Stock fielen, und einer Horde verrückter alter Ladys auszuweichen, die sich Hundekiller-Omas nannten. Streeter erschien das als Witz (und Justin versicherte ihnen, es sei satirisch gemeint), aber Games, Inc., warf einen Blick darauf und zahlte ihrem gut aussehenden, gutmütigen Sohn eine dreiviertel Million Dollar für die Rechte. Plus Tantiemen. Jus kaufte seinen Eltern zwei identische Geländewagen Toyota Pathfinder, rosa für die Lady, blau für den Gentleman. Janet weinte und umarmte ihn und nannte ihn einen törichten, leichtsinnigen, großzügigen und absolut wundervollen Jungen. Streeter nahm ihn in Roxie’s
Im Oktober kam Carl Goodhughs Mitbewohner von einer Vorlesung am Emerson College zurück und fand Carl in der Küche ihrer Wohnung auf dem Bauch liegend vor, während das gegrillte Käsesandwich, das er sich hatte zubereiten wollen, noch in der Bratpfanne rauchte. Trotz seiner erst zweiundzwanzig Jahre hatte Carl einen Herzanfall erlitten. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten einen angeborenen Herzfehler - irgendwas mit einer zu dünnwandigen Arterie -, der bis dahin unentdeckt geblieben war.
Carl starb nicht; sein Mitbewohner hatte ihn gerade noch rechtzeitig aufgefunden und mit Herz-Lungen-Massage reanimiert. Aber sein Gehirn war durch den Sauerstoffmangel geschädigt, und der intelligente, gut aussehende, sportliche junge Mann, der vor nicht sehr langer Zeit mit Justin Streeter Europa bereist hatte, war nur noch ein schlurfender Schatten seiner selbst. Er war inkontinent, verirrte sich, wenn er weiter als ein, zwei Straßen von zu Hause entfernt war (er war wieder zu seinem noch trauernden Vater gezogen), und seine Sprache war ein undeutliches Plärren, das nur Tom verstand. Goodhugh engagierte einen Betreuer für ihn, der Physiotherapie durchführte und dafür sorgte, dass Carl immer trocken und sauber war. Alle zwei Wochen machte er mit Carl einen »Ausflug«. Ihr häufigstes Ziel war das Wishful Dishful Ice Cream, wo Carl immer ein Pistazieneis bekam, das er sich ins ganze Gesicht schmierte. Anschließend wischte sein Betreuer ihn geduldig mit Feuchtservietten sauber.
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