Helen Shaverstone und ihr Sohn Robert waren am 11. November 2007 am Rand der Kleinstadt Amesbury im Newrie Creek aufgefunden worden. Die beiden hatten ungefähr zwölf Meilen entfernt in Tassel Village gelebt. Auf dem Novemberblatt ihres Terminkalenders für 2007 hatte sie den Zeitraum vom 8. bis 10. November markiert und dazugeschrieben: Bob in Saugus, 2 Nachlassversteigerungen plus Münzauktion Boston. Und erinnerte sie sich nicht, an einem dieser Abende in seinem Motel in Saugus angerufen zu haben, ohne ihn zu erreichen? Hatte sie nicht vermutet, er sei mit irgendeinem Münzhändler beim Abendessen, auf der Jagd nach Schnäppchen oder unter der Dusche? Daran schien sie sich zu erinnern. Aber war er dann an diesem Abend mit dem Auto unterwegs gewesen? War er auf der Rückfahrt von einem Job (eine kleine Auslieferung) in der Kleinstadt Amesbury gewesen? Oder falls er unter der Dusche gestanden hatte, was um Himmels willen hatte er von sich abgespült?
Als die Taskleistenuhr über 23 Uhr hinausging und sich der Mitternacht näherte - der Geisterstunde, in der sich angeblich die Gräber öffneten -, wandte sie sich seinen Reiseunterlagen und -abrechnungen zu. Sie arbeitete sorgfältig und kontrollierte vieles mehrfach. Das Zeug aus den späten Siebzigerjahren war lückenhaft und nicht sehr aussagekräftig - Bob war damals nur ein kleiner Mitarbeiter seiner Firma gewesen -, aber ab den Achtzigerjahren war alles da, und die Übereinstimmungen mit den Beadie-Morden der Jahre 1980 und 1981 waren eindeutig und unwiderlegbar. Er war zur passenden Zeit in den richtigen Gebieten unterwegs gewesen. Und wenn man in jemands Haus genügend Katzenhaare fand, argumentierte die Clevere Darcy, dann musste man fast zwangsläufig annehmen, dort gebe es irgendwo eine Katze.
Was soll ich jetzt tun?
Die Antwort schien zu lauten: Nimm deinen angstvoll verwirrten Kopf mit nach oben. Sie bezweifelte, dass sie würde schlafen können, aber wenigstens konnte sie heiß duschen und sich dann hinlegen. Sie war erschöpft, hatte Rückenschmerzen, weil sie sich krampfhaft übergeben hatte, und stank nach ihrem eigenen Schweiß.
Sie schaltete den Computer aus und schleppte sich mühsam in den ersten Stock hinauf, wobei sie das Geländer umklammerte, weil sie zu wissen glaubte, dass sie sonst ohnmächtig werden und die Treppe hinunterstürzen würde. Das heiße Wasser linderte ihre Rückenschmerzen, und ein paar Tylenol würden sie bis gegen zwei Uhr vermutlich weiter lindern; sie war davon überzeugt, dass sie dann noch immer wach sein würde. Als sie das Tylenol in den Medizinschrank zurückstellte, nahm sie das Fläschchen mit Ambien heraus, behielt es fast eine Minute lang in der Hand und stellte es dann ebenfalls zurück. Es würde ihr keinen Schlaf bringen, sondern sie nur benommen
Sie legte sich hin und sah zu dem Nachttisch auf der anderen Seite des Betts hinüber. Bobs Wecker. Bobs Ersatzlesebrille. Ein Buch mit dem Titel Die Hütte. Du solltest es auch lesen, Darce, es kann wirklich dazu führen, dass man sein Leben ändert, hatte er zwei oder drei Abende vor dieser letzten Reise gesagt.
Sie knipste ihre Lampe aus, sah Stacey Moore mit gefesselten Händen tot vor dem Maiskasten knien, in dem ihr Kopf steckte, und machte wieder Licht. In den meisten Nächten war das Dunkel ihr Freund - der gütige Vorbote des Schlafs -, aber nicht in dieser Nacht. Heute Nacht war das Dunkel von Bobs unaussprechlichem Harem bevölkert.
Das weißt du doch gar nicht! Merk dir, dass du das absolut nicht weißt.
Aber wenn man genügend Katzenhaare findet …
Jetzt auch Schluss mit den Katzenhaaren.
Sie lag da, sogar noch wacher, als sie zu sein befürchtet hatte, und ihre Gedanken bewegten sich im Kreis, mal dachte sie an die Opfer, mal an ihre Kinder, mal an sich selbst, sogar an eine längst vergessene Geschichte aus der Bibel über Jesus, der im Garten Gethsemane betete. Als sie glaubte, mindestens eine Stunde mit diesem elend sorgenvollen Rundlauf verbracht zu haben, sah sie auf Bobs Wecker, dass nur zwölf Minuten verstrichen waren. Sie richtete sich kurz auf einem Ellbogen auf, um den Wecker von sich weg zum Fenster hinzudrehen.
Er kommt morgen nicht vor sechs Uhr abends nach Hause, dachte sie … obwohl er streng genommen heute Abend heimkam, sagte sie sich, weil es nun schon eine Viertelstunde nach Mitternacht war. Trotzdem blieben ihr so achtzehn Stunden. Bestimmt Zeit genug, um zu irgendeiner Marjorie Duvall oder an Stacey Moore oder (das war am schlimmsten) an Robert Shaverstone, zehn Jahre alt, ER MUSSTE NICHT »LEIDEN« . Und dann war jeglicher Schlaf wieder unmöglich. Ihr kam sogar der Gedanke, sie würde nie mehr wieder schlafen können. Das war natürlich ausgeschlossen, aber als sie so dalag und noch Kotzegeschmack im Mund hatte, obwohl sie mit Scope gegurgelt hatte, erschien ihr das völlig plausibel.
Irgendwann merkte sie, dass sie sich an ein Jahr in früher Kindheit erinnerte, in dem sie auf der Suche nach Spiegeln durchs Haus gestreift war. Sie hatte sich vor ihnen aufgebaut, beide Hände seitlich ans Gesicht gelegt und mit der Nasenspitze das Glas berührt, ohne jedoch zu atmen, damit der Spiegel nicht beschlug.
Wenn ihre Mutter sie so antraf, war sie immer weggeschubst worden. Davon bleibt ein Fleck, den ich wieder wegputzen muss. Warum interessierst du dich überhaupt so für dich selbst? Du wirst niemals wegen Schönheit gehenkt werden. Und wieso stehst du so dicht davor? Aus dieser Nähe kannst du nichts erkennen, was sich zu sehen lohnt.
Wie alt war sie damals gewesen? Vier? Fünf? Zu jung, um zu erklären, dass sie sich ohnehin nicht für ihr Spiegelbild interessierte - jedenfalls nicht in erster Linie. Sie war davon überzeugt gewesen, Spiegel seien Portale in eine andere Welt, und was sie darin sah, sei nicht ihr Wohnzimmer oder Bad, sondern das Wohnzimmer oder Bad irgendeiner anderen Familie. Vielleicht das der Matsons statt dem der Madsens. Weil hinter dem Glas alles ähnlich , aber nicht gleich war; wenn man nur lange genug hineinsah, konnte unheimlichen Grund) in Kirchen, in denen Hochzeiten stattgefunden hatten, Reiskörner auflesen.
Im Lichtkreis ihrer Nachttischlampe dösend, ohne es recht zu merken, vermutete Darcy, dass sie einige Zeit bei einem Kinderpsychiater hätte verbringen müssen, wenn sie imstande gewesen wäre, ihrer Mutter zu erklären, wonach sie Ausschau hielt, und ihr von dem Dunkleren Mädchen erzählt hätte, das nicht ganz sie selbst war. Dabei war es nicht das Mädchen gewesen, das sie interessiert hatte, es war niemals das Mädchen gewesen. Interessiert hatte sie die Vorstellung, hinter den Spiegeln liege eine ganze neue Welt, und wenn man durch dieses andere Haus (das Dunklere Haus) gehen und aus der Tür treten könne, erwarte einen dort der Rest jener Welt.
Natürlich hatte diese Idee sich wieder gegeben, und dank einer neuen Puppe (die sie nach dem Pfannkuchensirup, den sie so liebte, Mrs. Butterworth nannte) und einer neuen Puppenstube war sie zu akzeptableren Kleinmädchenphantasien übergegangen: kochen, putzen, einkaufen, das Baby ausschimpfen, sich zum Abendessen umziehen. Jetzt, nach all den Jahren, hatte sie doch einen Weg durch den Spiegel gefunden. Nur erwartete sie in dem Dunkleren Haus kein kleines Mädchen; stattdessen gab es anscheinend einen Dunkleren Ehemann, der die ganze Zeit hinter dem Spiegel gelebt und dort schreckliche Dinge getan hatte.
Ein gutes Stück zu einem fairem Preis, sagte Bob gern - ein Buchhaltermotto, wenn es je eines gegeben hatte.
Aufrecht und die Luft schnüffelnd - eine Antwort auf Na, wie geht’s? , die jeder Junge in jeder Gruppe von Jungpfadfindern, die er jemals auf dem furchterregenden Dead Man’s Trail hinter dem Einkaufszentrum Golden Grove geführt hatte, gut kannte. Eine Antwort, die manche der Jungen zweifellos noch als erwachsene Männer wiederholen würden.
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