»Andre, ich glaube nicht, daß es sicher ist, da drüber zu klettern.« »Wer redet denn vom Drüberklettern? Wir lassen dich von oben herunter.« »Mich?«
»Ja. Du hängst an einem Seil über dem Bogen, und wir lassen dich langsam hinein.« Anscheinend war ihr die Bestürzung anzusehen, denn Marek grinste. »Keine Angst, ich komme mit.«
»Aber du weißt, wenn wir uns irren ...« Dann könnten wir lebendig begraben werden, dachte sie. »Was ist?« fragte Marek. »Angst?« Mehr hatte er nicht zu sagen.
Zehn Minuten später hing sie am Rand des freigelegten Bogens in der Luft. Sie trug den Ausgrabungsrucksack, an dem hinten eine Preßluftflasche befestigt war; seitlich am Hüftriemen baumelten zwei Taschenlampen wie Handgranaten. Die Gesichtsmaske hatte sie sich auf die Stirn hochgeschoben. Drähte liefen vom Funkgerät zu einer Batterie in ihrer Tasche. Mit so viel Ausrüstung kam sie sich schwerfällig, unbeholfen vor. Marek stand über ihr und hielt die Sicherungsleine. Und unten in der Grube standen Rick und seine Studenten und sahen ihr angespannt zu.
Sie schaute zu Marek hoch. »Gib mir anderthalb.« Er gab ihr eineinhalb Meter Leine, und sie sank nach unten, bis ihre Füße leicht den Erdhaufen berührten. Sie spürte, wie sich unter ihren Füßen Erde löste und hinunterrieselte. »Noch einen.«
Auf Hände und Knie gestützt, drückte sie ihr ganzes Gewicht auf den Erdhaufen. Er hielt. Aber sie sah skeptisch zu dem Bogen hoch. Der Schlußstein bröckelte an den Rändern.
»Alles okay?« rief Marek.
»Okay«, sagte sie. »Ich geh jetzt rein.«
Sie kroch zurück zu dem klaffenden Loch unter dem Bogen, zu Marek hoch und löste eine Taschenlampe vom Gürtel. »Ich weiß nicht, ob du das schaffst, Andre. Kann sein, daß die Erde dein Gewicht nicht trägt.« »Sehr lustig. Du machst das nicht allein, Kate.« »Na, dann laß mich wenigstens zuerst reingehen.« Sie knipste die Lampe an, schaltete das Funkgerät ein, zog sich die Gesichtsmaske vor Mund und Nase, so daß sie jetzt durch Filter atmete, und kroch dann durch das Loch in die Schwärze dahinter.
Die Luft war überraschend kühl. Der gelbe Strahl ihrer Taschenlampe huschte über nackte Steinwände, einen Steinboden. Chang hatte recht: ein Hohlraum unter dem Kloster. Er schien ziemlich ausgedehnt zu sein, und am anderen Ende war eine Art Durchgang zu erkennen, der jedoch von einem Erd- und Geröllhaufen versperrt wurde. Irgendwie war diese Kammer nicht mit Erde angefüllt worden wie die anderen. Sie richtete die Lampe zur Decke, um ihren Zustand zu prüfen. Sie konnte kaum etwas erkennen. Gut sah es auf jeden Fall nicht aus. Auf Händen und Knien kroch sie zuerst vorwärts und dann abwärts. Sie rutschte ein wenig über die lockere Erde, doch dann hatte sie den Steinboden erreicht. Augenblicke später stand sie im Inneren der Katakombe. »Ich bin drin.«
Es war dunkel um sie herum, die Luft fühlte sich feucht an. Ein modriger Geruch stieg ihr in die Nase, der sogar durch die Filter hindurch noch unangenehm war. Die Filter schützten vor Bakterien und Viren; bei den meisten Ausgrabungen verzichtete man auf diese Masken, aber hier waren sie nötig, weil im vierzehnten Jahrhundert die Pest mehrmals diese Gegend heimgesucht und ein Drittel der Bevölkerung getötet hatte. Zwar wurde eine Form dieser Epidemie ursprünglich nur durch Ratten übertragen, doch es gab auch eine andere, die durch die Luft übertragen wurde, durch Husten und Niesen, und so mußte jeder, der in einen alten, lange verschlossenen Hohlraum eindrang, auf der Hut sein.
Hinter sich hörte sie ein Klappern. Marek kam gerade durch das Loch. Er fing an zu rutschen und sprang deshalb zu Boden. In der Stille danach hörte sie die leisen Geräusche von Kieseln und Erdbrocken, die den Haufen herunterrieselten.
»Du weißt«, sagte sie, »daß wir hier lebendig begraben werden könnten?« »Wo bleibt dein Optimismus?« sagte Marck. Eine große Leuchtstofflampe mit Retlektoren in der Hand, bewegte er sich vorwärts. Das Licht erhellte einen ganzen Abschnitt des Gewölbes. Jetzt, da sie besser sehen konnten, wirkte der Raum enttäuschend nackt. Links stand ein Steinsarkophag, auf dem Deckel der daneben an der Wand lehnte, war das Relief eines Ritters eingemeißelt. Sie schauten in den Sarkophag, er war leer. An einer anderen Wand stand ein grober Holztisch. Auch darauf war nichts zu sehen. Links von ihnen führte ein offener Gang zu einer steinernen Treppe, die jedoch schon nach wenigen Stufen unter einem Erdhaufen verschwand. Rechts von ihnen blockierten weitere Erdhaufen einen anderen Durchgang, einen anderen Steinbogen.
Marek seufzte. »Die ganze Aufregung... für nichts.«
Aber Kate machte sich immer noch Sorgen um die Erde, die sich löste und in den Raum rieselte. Deshalb sah sie sich die Erdhaufen auf der rechten Seite genauer an.
Und nur deshalb entdeckte sie es.
»Andre«, sagte sie. »Komm her.«
Es war ein erdfarbener Vorsprung, braun auf dem Braun des Haufens, aber seine Oberfläche glänzte leicht. Sie strich mit der Hand darüber. Es war Öltuch. Sie legte eine scharfe Ecke frei. Öltuch, in das etwas eingewickelt war.
Marek schaute ihr über die Schulter. »Sehr gut. Sehr gut.« »Hatten die damals schon Öltuch?«
»O ja. Öltuch ist eine Erfindung der Wikinger, ungefähr im neunten Jahrhundert. Und zu unserer Zeit in Europa schon ziemlich verbreitet. Obwohl wir,soweit ich weiß, im Kloster sonst nichts gefunden haben, was in Öltuch eingewickelt war.«
Er half ihr graben. Sie gingen behutsam vor, weil sie nicht wollten, daß der Erdhaufen auf sie herabstürzte, aber bald hatten sie es freigelegt: ein Quadrat von etwa sechzig Zentimetern Kantenlänge, verschnürt mit ölgetränkter Schnur.
»Ich würde sagen, es sind Dokumente«, bemerkte Marek. Seine Finger zuckten im grellen Licht, er wollte das Paket unbedingt öffnen, hielt sich aber zurück. »Wir nehmen es mit.«
Er klemmte es sich unter den Arm und ging zum Eingang zu-rück. Kate warf noch einen letzten Blick auf den Erdhaufen und fragte sich, ob sie vielleicht irgend etwas übersehen hatte. Aber das hatte sie nicht. Sie schwang die Taschenlampe und -Hielt plötzlich inne.
Aus dein Augenwinkel heraus erhaschte sie einen Blick auf etwas Glänzendes. Sie drehte sich um, schaute noch einmal hin. Im ersten Augenblick fand sie es nicht mehr, doch dann sah sie es.
Es war ein kleines Stückchen Glas, das aus der Erde herausragte.
»Andre?« sagte sie. »Ich glaube, da ist noch mehr.«
Das Glas war dünn und völlig durchsichtig. Der Rand war abgerundet und glatt, die Fertigungsqualität wirkte beinahe modern. Mit den Fingerspitzen wischte sie die Erde weg und sah dann, worum es sich handelte: um die Linse einer Brille.
Es war eine Bifokallinse.
»Was ist das?« fragte Andre, der nun wieder zu ihr kam. »Das mußt du mir sagen.«
Er bückte sich darüber, hielt seine Lampe sehr nahe daran. Sein Gesicht war so dicht vor dem Glas, daß seine Nase es beinahe berührte. »Wo hast du das gefunden?« Er klang besorgt. »Gleich hier.«
»Freiliegend, so wie jetzt?« Seine Stimme klang angespannt, beinahe vorwurfsvoll.
»Nein, nur der Rand ragte heraus. Ich habe es freigelegt.« »Wie?«
»Mit dem Finger.«
»Du willst mir also sagen, daß es teilweise verschüttet war?« Er klang,
als glaubte er ihr nicht.
»He, was soll das?«
»Bitte antworte mir einfach.«
»Nein, Andre, es war größtenteils verschüttet. Alles bis auf diese linke Ecke steckte in der Erde.«
»Mir wäre es lieber, wenn du es nicht berührt hättest.«
»Mir auch, wenn ich gewußt hätte, daß du dich aufführst wie ein —«
»Das muß erklärt werden«, sagte er. »Dreh dich um.« »Was?« »Dreh dich um.« Er packte sie an der Schulter und drehte sie grob herum, so daß sie ihm den Rücken zukehrte.
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