»Der Punkt ist, das war der freiliegende Rand der Linse, nicht? Der Rand, von dem Kate sagte, daß er aus der Erde herausragte?« »Richtig.«
»Das heißt, die Linse ist alt. Andre. Ich weiß nicht, wie alt, aber sie ist keine Verunreinigung. Rick sieht sich gerade die Knochen an, die heute gefunden wurden, und er glaubt, daß einige davon aus einer späteren Periode als der unseren stammen, aus dem achtzehnten, vielleicht sogar dem neunzehnten Jahrhundert. Was bedeutet, daß einer von denen eine Bifokalbrille getragen haben könnte.«
»Ich weiß nicht. Die Linse sieht sehr präzise geschliffen aus..,« »Was nicht heißen muß, daß sie neu ist«, erwiderte Stern. »Gute Schleiftechniken gibt es seit zweihundert Jahren. Ich werde diese Linse einem Optikspezialisten in New Haven schicken, damit der sie untersucht. Und ich habe Elsie gebeten, sich sofort an die 01-tuchdokumente zu machen und nachzuschauen, ob sie dort irgendwas Ungewöhnliches entdeckt. Aber ich glaube, vorerst können wir uns alle wieder entspannen.«
»Das ist eine gute Nachricht«, sagte Marek grinsend.
»Ich dachte mir, daß du es wissen willst. Dann bis zum Abendessen.«
Zum Abendessen trafen sie sich auf dem alten Marktplatz von Domme, einem Dorf auf einer Anhöhe, wenige Kilometer von ihrer Grabungsstätte entfernt. Als die Nacht hereinbrach, hatte Chris, der den ganzen Tag mürrisch gewesen war, seine schlechte Laune überwunden und freute sich aufs Abendessen. Er fragte sich, ob Marek etwas vom Professor gehört hatte, und wenn nicht, was er deswegen unternehmen wollte. Er hatte eine unbestimmte Vorahnung.
Seine gute Laune schwand dahin, als er im Restaurant ankam und die beiden Börsenmaklerpärchen wieder an ihrem Tisch fand. Anscheinend hatte man sie für einen zweiten Abend eingeladen. Chris wollte gleich wieder kehrtmachen, doch Kate stand auf, legte den Arm um ihn und schob ihn zum Tisch.
»Lieber nicht«, sagte er leise. »Ich kann diese Leute nicht ausstehen.« Aber sie umarmte ihn kurz und drückte ihn auf einen Stuhl. Er sah, daß an diesem Abend offensichtlich die Börsenmakler den Wein bezahlten — Chateau Lafite-Rothschild, über zweitausend Francs die Flasche. Ach, was soll's, dachte er.
»Was für ein bezauberndes Städtchen«, sagte eine der Frauen. »Wir haben uns heute die Mauern angeschaut, die außen herumlaufen. Die sind ziemlich lang. Und hoch. Und dieses hübsche Tor, durch das man in die Stadt kommt, das mit den runden Türmen auf jeder Seite.« Kate nickte. »Es ist nur irgendwie witzig«, sagte sie, »daß viele von den Dörfern, die wir heute so bezaubernd finden, im Grunde genommen die Einkaufszentren des vierzehnten Jahrhunderts waren.« »Einkaufszentren? Wie meinst du das?«
In diesem Augenblick fing Mareks Funkgerät, das er sich an den Gürtel gehakt hatte, an zu knistern. »Andre? Bist du dran?«
Es war Elsie. Sie ging nie mit den anderen zum Abendessen, sondern arbeitete bis spät in die Nacht an ihrer Katalogisierung. Marek griff nach dem Apparat. »Ja, Elsie.«
»Ich habe hier gerade was sehr Komisches gefunden.« »Ja...«
»Würdest du David sagen, er soll herkommen? Ich brauche seine Hilfe bei einem Test. Aber eins kann ich euch jetzt schon sagen -falls das ein
Witz sein soll, ich finde den nicht lustig.«
Es klickte, und die Verbindung war unterbrochen.
»Elsie?«
Keine Antwort.
Marek sah in die Runde. »Hat einer von euch Elsie einen Streich gespielt?«
Alle schüttelten den Kopf.
Chris Hughes sagte: »Vielleicht dreht sie langsam durch. Würde mich nicht wundern, sie macht ja nichts anderes, als immer nur diese Pergamente anzustarren.«
»Ich schau nach, was sie will«, sagte David Stern, stand auf und verschwand in der Dunkelheit.
Chris überlegte, ob er mit ihm gehen sollte. Doch Kate sah ihn an und schenkte ihm ein Lächeln, und so ließ er sich zurücksinken und griff nach seinem Weinglas.
»Du hast eben gesagt — diese Städte waren wie Einkaufszentren.« »Viele davon, ja«, sagte Kate Erickson. »Diese Städte waren Spekulationsobjekte, die Grundbesitzern Geld einbringen sollten. Wie die Einkaufszentren heute. Und wie diese Zentren wurden sie alle nach einem ähnlichen Muster erbaut.«
Sie drehte sich um und deutete auf den Marktplatz von Domme hinter ihnen. »Seht ihr diesen überdachten hölzernen Markt in der Mitte des Platzes? Ähnliche überdachte Märkte findet man in vielen Städten hier in der Gegend. Das bedeutet, daß die Stadt eine oastide ist, ein neuer, befestigter Ort. Im vierzehnten Jahrhundert wurden in Frankreich fast tausend hastidcs gegründet. Einige wurden gebaut, um Territorium zu sichern. Aber viele wurden nur gebaut, um Geld zu machen.«
Nun hatte sie die Aufmerksamkeit der Aktienhändler. Einer der Männer nß den Kopf hoch und sagte: »Moment mal. Wie kann man mit dem Bau einer Stadt Geld verdienen?« Kate lächelte. »Die Volkswirtschaft im vierzehnten Jahrhundert«, sagte sie, »hat ungefähr so funktioniert: Nehmen wir an, du bist ein Adliger, der eine Menge Land besitzt. Frankreich im vierzehnten Jahrhundert ist größtenteils bewaldet, was bedeutet, daß dein Land hauptsächlich Wald ist, in dem Wölfe hausen. Vielleicht hast du hier und dort ein paar Bauern, die dir eine ziemlich dürftige Pacht zahlen. Aber so wird man nicht reich. Und weil du ein Adliger bist, brauchst du immer dringend Geld, um Kriege zu führen und den aufwendigen Lebensstil zu bezahlen, der von dir erwartet wird.
Was kannst du also tun, um die Einkünfte aus deinen Ländereien zu erhöhen? Du baust eine neue Stadt. Du siedelst Leute in deiner neuen Stadt an, indem du ihnen spezielle Steuerbefreiungen versprichst, spezielle Privilegien, die in der Stadtverfassung festgelegt sind. Im Grunde genommen befreist du die Städter von feudalen Verpflichtungen.«
»Und warum gibt man ihnen diese Vergünstigungen?« »Weil du so bald Händler und Märkte in der Stadt hast, und deren Steuern und Gebühren bringen dir viel mehr Geld ein. Du verlangst Gebühren für alles. Für die Benutzung der Straße, die in die Stadt fuhrt. Für das Recht, durch das Stadttor zu treten. Für das Recht, auf dem Markt einen Stand aufzubauen. Für die Soldaten, die in der Stadt Ordnung halten. Für die Zulassung von Geldverleihern zum Markt.« »Nicht schlecht«, sagte einer der Männer.
»Absolut nicht schlecht. Und zusätzlich verlangst du einen Prozentsatz von allem, was auf dem Markt verkauft wird.« »Wirklich? Wieviel Prozent?«
»Das hing ab von dem Ort und von der jeweiligen Ware. Im allgemeinen zwischen einem und fünf Prozent. Der Markt ist also der eigentliche Grund für die Stadt. Man sieht es deutlich an ihrer Anlage. Seht euch die Kirche da drüben an«, sagte sie und deutete zur Seite. »In früheren Jahrhunderten war die Kirche der Mittelpunkt des Ortes. Die Leute gingen mindestens einmal pro Tag zur Messe. Das ganze Leben drehte sich um die Kirche. Aber hier in Domme steht die Kirche seitlich. Der Markt ist jetzt das Zentrum der Stadt.« »Dann kommt das ganze Geld also vom Markt?« »Nicht ausschließlich, weil die befestigte Stadt auch Schutz für die Umgebung bietet, was bedeutet, daß Bauern das Land vor den Toren roden und neue Höfe errichten. Das erhöht auch deine Pachteinkünfte. Alles in allem war eine neue Stadt also eine solide Investition. Und das ist der Grund, warum so viele von diesen Städten gebaut wurden.« »Ist das der einzige Grund, warum sie gebaut wurden?« »Nein, viele wurden auch aus militärischen Überlegungen gebaut, als -« Mareks Funkgerät knisterte. Es war wieder Elsie. »Andre?« »Ja«, sagte Marek.
»Du solltest besser sofort rüberkommen. Ich weiß nämlich absolut nicht, was ich davon halten soll.« »Warum? Worum geht's denn?« »Komm einfach. Sofort.«
Der Generator tuckerte laut, und das Lagerhaus stand hell erleuchtet in dem dunklen Feld, unter einem Himmel voller Sterne.
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