Sie ging durch die Ruinen von Castelgard. Wie kaum ein anderer konnte Kate die Stadt im Geiste wiederaufbauen und sie so sehen, wie sie einmal war. Ihr gefiel Castelgard, es war eine zweckorientierte Stadt, entworfen und gebaut in Zeiten des Krieges. Sie besaß all die unkomplizierte Authentizität, die Kate im Architek-turstudimn so vennißt hatte.
Sie spürte die Sonne heiß auf Hals und Beinen und dachte zum hundertsten Mal, wie froh sie doch war, hier in Frankreich zu sein und nicht in New Haven an ihrem engen kleinen Arbeitsplatz im sechsten Stock des Arts and Architecture Building mit seinen großen Panoramafenstern und dem Ausblick auf das pseudokoloniale Davenport College und das pseudogotische Payne Whitney Gym. Kate hatte das Architekturstudium deprimierend gefunden und das A & A Building sehr deprimierend, und ihren Wechsel zur Geschichte hatte sie nie bereut.
Jedenfalls war gegen einen Sommer in Frankreich nichts einzuwenden. Es gefiel ihr sehr gut in diesem Team hier an der Dordogne. Bis jetzt war es eine angenehme Zeit gewesen.
Natürlich hatte sie einige Männer abwehren müssen. Anfangs hatte es Marek versucht, dann Rick Chang, und jetzt würde sie sich auch noch mit Chris Hughes herumschlagen müssen. Chris litt stark unter der Zurückweisung durch das britische Mädchen — anscheinend war er der einzige im ganzen Perigord gewesen, der es nicht hatte kommen sehen —, und jetzt führte er sich auf wie ein verletztes Hündchen. Gestern abend während des Essens hatte er sie die ganze Zeit angestarrt. Männer schienen einfach nicht zu begreifen, daß Anmache aus einer Enttäuschung heraus für das neue Gegenüber etwas Beleidigendes hatte. Gedankenverloren ging sie zum Fluß, wo das kleine Boot vertäut lag, das vom Team zur Überfahrt benutzt wurde. Und dort wartete, mit einem Lächeln im Gesicht, Chris Hughes. »Ich rudere«, sagte er, als sie ins Boot stiegen. Sie ließ ihn. Mit langsamen Zügen setzte er das Boot in Bewegung. Sie sagte nichts, schloß nur die Augen und drehte das Gesicht der Sonne entgegen. Es war warm und entspannend. »Ein schöner Tag«, hörte sie ihn sagen. »Ja, schön.«
»Weißt du, Kate«, begann er, »das Abendessen gestern hat mir wirklich gefallen. Ich habe mir gedacht, vielleicht -«
»Das ist sehr schmeichelhaft, Chris«, erwiderte sie. »Aber ich muß ehrlich mit dir sein.«
»Wirklich? Inwiefern?«
»Ich habe gerade erst mit jemandem Schluß gemacht.« »Oh. Aha...«
»Und ich will jetzt eine Weile allein bleiben.«
»Oh«, sagte er. »Sicher. Ich verstehe. Aber vielleicht könnten wir trotzdem ... «
Sie schenkte ihm ihr nettestes Lächeln. »Ich glaube nicht.«
»Oh. Okay.« Sie sah, daß sein Gesicht sich zu einem Schmollen verzog.
Doch dann sagte er: »Weißt du, du hast recht. Ich glaube wirklich, es ist das beste, wenn wir einfach nur Kollegen bleiben.«
»Kollegen«, sagte Kate, und sie schüttelten sich die Hände.
Mit einem Knirschen landete das Boot am anderen Ufer.
Beim Kloster standen eine Menge Leute am Rand von Planquadrat vier und schauten hinunter in die Grube.
Es war ein exakt quadratisches Loch von sieben Metern Kantenlänge und drei Metern Tiefe. An der Nord- und der Ostseite hatten die Ausgräber die Schmalseiten von Steinbögen freigelegt, was daraufhindeutete, daß die Grabung die Katakomben unterhalb des Klosters erreicht hatte. Die Bögen waren angefüllt mit dichtgepackter Erde. In der Woche zuvor hatten sie einen Graben durch den nördlichen Bogen ausgehoben, aber der schien nirgendwohin zu fuhren. Er war mit Brettern vernagelt und wurde nicht weiter beachtet. Jetzt richtete sich die ganze Aufmerksamkeit auf den östlichen Bogen, wo sie in den letzten Tagen einen weiteren Graben ausgehoben hatten. Die Arbeit war nur langsam vorangekommen, weil sie immer wieder menschliche Überreste fanden, die Rick Chang als die Leichen von Soldaten identifizierte.
Als Kate nach unten schaute, sah sie, daß die Wände des Grabens auf beiden Seiten eingestürzt waren, die Erde war nach innen gerieselt und hatte den Graben selbst wieder aufgefüllt. Jetzt lag ein riesiger Haufen Erde da, der ein Weiterkommen unmöglich machte, und der Einsturz hatte bräunliche Schädel und lange Knochen — Unmengen davon -freigelegt.
Sie sah Rick Chang unten in der Grube, und Marek und Elsie, die ihre Klause verlassen hatte, um hierherzukommen. Elsie hatte ihre Kamera auf ein Stativ montiert und schoß Fotos. Diese wür-den später im Computer zu 360-Grad-Panoramaansichten montiert werden. Fotografiert wurde in Stundenintervallen, um jede Phase der Ausgrabung zu dokumentieren.
Marek hob den Kopf und sah Kate am Rand stehen. »He«, sagte er. »Dich habe ich schon gesucht. Komm runter.«
Sie kletterte die Leiter hinunter. In der heißen Nachmittagssonne roch sie Erde und einen schwachen Fäulnisgestank. Einer der Schädel löste sich aus der Erde und rollte ihr vor die Füße. Aber sie berührte ihn nicht; sie wußte, daß alle Überreste genauso bleiben mußten, wie sie waren, bis Chang sie entfernte.
»Das sind vielleicht die Katakomben«, sagte Kate, »aber diese Knochen wurden hier nicht gelagert. Gab es hier je eine Schlacht?« Marek zuckte die Achseln. »Hier gab es überall Schlachten. Was mich mehr interessiert, ist das da.« Er deutete auf den Bogen, der ohne jede Verzierung war, gerundet und leicht abgeflacht.
Kate sagte: »Zisterziensisch, könnte sogar aus dem zwölften Jahrhundert stammen...«
»Okay, gut. Aber was ist damit?« Direkt unter der Wölbung des Bogens hatte der Einsturz des Grabens eine schwarze Öffnung von etwa einem Meter Durchmesser hinterlassen. »Was denkst du?« fragte sie.
»Ich denke, daß wir da rein sollten. Und zwar gleich.« »Warum?« fragte sie. »Was soll die Eile?«
Chang antwortete: »Es sieht aus, als wäre hinter der Öffnung ein Hohlraum. Eine Kammer, vielleicht mehrere Kammern.«
»Und?«
»Jetzt kommt Luft da hinein. Zum ersten Mal seit vielleicht sechshundert Jahren.«
»Und Luft hat Sauerstoff«, ergänzte Marek. »Glaubt ihr, daß da Artefakte drin sind?«
»Ich weiß nicht, was drin ist«, sagte Marek. »Aber schon wenige Stunden könnten beträchtliche Zerstörungen verursachen.« Er wandte sich an Chang. »Haben wir eine Schlange?«
»Nein, die ist in Toulouse, bei der Reparatur.« Die Schlange war ein Fiberoptikkabel, das mit einer Kamera verbunden werden konnte. Man benutzte sie, um ansonsten nicht zugängliche Hohlräume zu untersuchen.
Kate sagte: »Warum pumpt ihr nicht einfach Stickstoff hinein?« Stickstoff war ein träges Gas und schwerer als Luft. Wenn man es durch die Öffnung pumpte, würde es die dahinterliegenden Kammern anfüllen wie Wasser. Und etwaige Artefakte vor der Korrosion durch den Sauerstoff schützen.
»Ich würde ja«, sagte Marek, »wenn ich genug Gas hätte. Der größte Zylinder, den wir haben, faßt nur fünfzig Liter.« Das war nicht genug.
Kate deutete auf die Schädel. »Ich weiß, aber wenn du jetzt irgendwas machst, zerstörst du -«
»Wegen der Skelette würde ich mir keine Gedanken machen«, sagte Chang. »Die wurden bereits bewegt. Und es sieht so aus, als wären sie nach einer Schlacht in einem Massengrab beigesetzt worden. Allzu viel können wir von denen nicht mehr erfahren.« Er drehte sich um und schaute nach oben. »Chris, wer hat die Reflektoren?« Von oben rief Chris herunter: »Ich nicht. Ich glaube, die wurden das letzte Mal hier benutzt.«
Einer der Studenten sagte: »Nein, die sind drüben bei Planquadrat drei.«
»Dann holt sie. Elsie, bist du mit deinen Fotos fertig?« »Immer diese Hektik.« »Ja oder nein?« »Noch eine Minute.«
Chang rief den Studenten am Grubenrand zu, sie sollten die Reflektoren herbringen. Vier von ihnen liefen aufgeregt davon. Zu den anderen sagte Marek: »Okay, Leute, ich brauche Strahler, ich brauche Ausgrabungsrucksäcke, Preßluftflaschen, Gesichtsmasken, Sicherungsleinen, den ganzen Kram - und zwar pronto.« Während all der Aufregung musterte Kate weiter die Öffnung unter der Bogenwölbung. Der Bogen selbst sah schwach aus, die Steine saßen nur locker aufeinander. Normalerweise behielt ein Bogen seine Form durch das reine Gewicht der Mauern, das auf den Mittelstein, den Schlußstein des Bogens, drückte. Aber hier konnte die gesamte Wölbung über der Öffnung einfach einstürzen. Der Erdhaufen unter der Öffnung war locker. Sie sah, wie sich hier und dort Steinchen lösten und herunterrieselten. Für sie sah das nicht sehr gut aus.
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