Jahrhunderts ist. Der Ort selbst ist älter, aber zwischen dreizehnhundert und vierzehnhundert wurden die meisten Gebäude errichtet oder umgebaut, damit sie besseren Schutz boten: dickere Mauern, konzentrische Mauern, kompliziertere Gräben und Tore.«
»Und wann ist das noch mal? Im finsteren Mittelalter?« fragte einer der Männer und goß sich Wein ein.
»Nun ja«, sagte Marek. »Genau gesagt, das Hochmittelalter.« »Nicht so hoch, wie mein Alkoholpegel bald sein wird«, sagte der Mann. »Und was kommt dann davor? Das Tiefmittelalter.« »Genau«, erwiderte Marek mit einem ironischen Grinsen. »Mann«, sagte der andere, »Volltreffer.«
Seit etwa vierzig vor Christus wurde Europa von Rom beherrscht. Die Region Frankreichs, in der sie sich jetzt befanden, Aquitaine, war ursprünglich die römische Kolonie Aquitania. Überall in Europa bauten die Römer Straßen, überwachten den Handel und hielten Recht und Ordnung aufrecht. Europa florierte.
Doch um vierhundert nach Christus begann Rom, seine Soldaten zurückzuziehen und seine Garnisonen zu verlassen. Nach dem Zusammenbrach des Imperiums verfiel Europa fünfhundert Jahre lang in Gesetzlosigkeit. Die Bevölkerungszahl sank, der Handel ging zurück, Städte schrumpften. Das offene Land wurde von Bar-barenhorden heimgesucht: von Goten und Vandalen, Hunnen und Wikingern. Diese finstere Zeit nannte man natürlich nicht Tiefmittelalter - hier hatte Marek seinen Gesprächspartner auflaufen lassen -, sondern das frühe Mittelalter.
»Aber um das letzte Millennium — ich meine tausend nach Christus — wurde es langsam wieder besser«, fuhr Marek fort. »Eine neue Organisationsform bildete sich heraus, die wir Feudalismus nennen -ein Wort, das allerdings von den Leuten damals nicht benutzt wurde.« Im Feudalismus sorgten mächtige Regionalherrscher für Ordnung in ihren Regionen. Das neue System funktionierte. Die Landwirtschaft verbesserte sich. Handel und Städte florierten. Um zwölfhundert nach Christus war Europa wieder erblüht, mit einer größeren Bevölkerung als während des römischen Imperiums. »Deshalb betrachtet man das Jahr 1200 als den Beginn des Hochmittelalters — einer Zeit des Wachstums und der kulturellen Blüte.«
Die Amerikaner waren skeptisch. »Wenn alles so toll war, warum wurden dann immer mehr Verteidigungsanlagen errichtet?« »Wegen des Hundertjährigen Kriegs«, sagte Marek, »der zwischen England und Frankreich ausgefochten wurde.« »Was war das, ein Religionskrieg?«
»Nein«, erwiderte Marek. »Die Religion hatte damit nichts zu tun. Zu der Zeit waren alle katholisch.«
»Wirklich? Was war mit den Protestanten?«
»Es gab keine Protestanten.«
»Wo waren die?«
»Die hatten sich noch nicht erfunden«, sagte Marek.
»Wirklich? Um was ging's dann in dem Krieg?«
»Um Landeshoheit«, sagte Marek. »Es ging darum, daß ein großer Teil Frankreichs in englischem Besitz war.«
Einer der Männer runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Daß Frankreich zu England gehörte?« Marek seufzte.
Er hatte einen Schimpfnamen für Leute wie diese: Zeitprovinzler -Leute, die von der Vergangenheit keine Ahnung hatten und auch noch stolz darauf waren.
Zeitprovinzler waren davon überzeugt, daß nur die Gegenwart Bedeutung hatte und daß man alles, was früher passiert war, einfach ignorieren konnte. Die moderne Welt war faszinierend und neu, und die Vergangenheit hatte keinen Einfluß darauf. Sich mit Geschichte zu beschäftigen war so sinnlos, wie das Morsealphabet oder das Kutschenfahren zu lernen. Und das Mittelalter — all diese Ritter in klirrenden Rüstungen und Damen in wallenden Gewändern und spitzen Hüten — war so offensichtlich irrelevant, daß man keinen Gedanken daran zu verschwenden brauchte.
In Wahrheit aber war die moderne Welt im Mittelalter erfunden worden. Alles - vom Rechtssystem über die Nationalstaaten und das Vertrauen in die Technik bis hin zur Idee der romantischen Liebe — hatte seinen Ausgangspunkt im Mittelalter. Diese Börsenmakler verdankten sogar das Konzept der Marktwirtschaft dem Mittelalter. Und wenn sie das nicht wußten, kannten sie nicht einmal die grundlegenden Tatsachen ihres Seins. Warum sie taten, was sie taten. Woher sie kamen.
Wie Professor Johnston oft sagte: Wer über die Geschichte nichts weiß, der weiß überhaupt nichts. Der ist ein Blatt, das nicht weiß, daß es Teil eines Baums ist.
Die Börsenmakler machten stur weiter, so wie Leute es oft tun, wenn sie mit ihrer eigenen Unwissenheit konfrontiert werden. »Wirklich: England gehörte ein Teil Frankreichs? Das ist doch Blödsinn. Engländer und Franzosen haben einander immer gehaßt.« »Nicht immer«, sagte Marek. »Das war vor sechshundert Jahren. Es war eine völlig andere Welt. Engländer und Franzosen standen sich damals viel näher. Seit Soldaten aus der Normandie im Jahr 1066 England eroberten, war fast der gesamte englische Adel französisch. Man sprach französisch, aß französisch, folgte der französischen Mode. Es war nicht überraschend, daß diese Adligen französisches Territorium besaßen. Hier im Süden hatten sie mehr als ein Jahrhundert lang über Aquitanien geherrscht.«
»Und? Worum ging's in dem Krieg? Wollten die Franzosen plötzlich alles für sich selbst?« »Mehr oder weniger, ja.«
»Paßt«, sagte der Mann mit einem wissenden Grinsen.
Marek dozierte weiter. Chris vertrieb sich die Zeit, indem er versuchte, mit Kate Blickkontakt herzustellen. Das Kerzenlicht machte ihre Gesichtszüge, die im Sonnenlicht hart, ja beinahe verbissen aussahen, weicher. Er fand sie unerwartet attraktiv.
Aber sie erwiderte seinen Blick nicht. Ihre Aufmerksamkeit war ausschließlich auf ihre Maklerfreunde gerichtet. Typisch, dachte Chris. Egal, was die Typen plapperten, Frauen fühlten sich nur zu Männern mit Macht und Geld hingezogen. Auch wenn es solche bornierten Dünnbrettbohrer waren wie diese beiden.
Als schließlich einer der Männer anfing, mit seiner Uhr zu spielen und sie um sein Handgelenk wirbelte, hielt Chris es nicht länger aus. Abrupt stand er auf, murmelte eine Entschuldigung und daß er seine Analysen noch einmal überprüfen müsse und ging dann die Rue Tourny hinunter zum Parkplatz am Rand des alten Viertels.
Unterwegs kam es ihm vor, als würde er in dem Sträßchen nur Liebende sehen, Paare, die Arm in Arm gingen, die Frau den Kopf auf der Schulter des Mannes. Sie fühlten sich wohl miteinander, ohne reden zu müssen, genossen einfach die romantische Umgebung. Jedes Paar, das ihm begegnete, machte ihn mürrischer und ließ ihn schneller gehen. Er war erleichtert, als er endlich beim Auto war und heimfahren konnte. Nigel!
Was für ein Idiot hatte einen Namen wie Nigel?
Am nächsten Morgen hing Kate wieder in der Kapelle von Ca-stelgard.als ihr Funkgerät knisterte und sie den Schrei hörte: »Heiße Tamales! Heiße Tamales. Planquadrat vier. Mittagessen ist fertig. Kommt und holt es euch.«
Das war der Signalruf des Teams, wenn jemand eine neue Entdeckung gemacht hatte. Für alle wichtigen Mitteilungen benutzten sie Codewörter, weil sie wußten, daß die örtlichen Behörden manchmal ihren Funkverkehr abhörten. Bei anderen Ausgrabungen hatte die Regierung gelegentlich Agenten geschickt, die alle Funde sofort nach der Entdeckung konfiszierten, bevor die Forscher Gelegenheit hatten, sie zu dokumentieren und zu bewerten. Obwohl die französische Regierung ein durchaus verständiges und aufgeklärtes Verhältnis zu historischen Kulturgütern hatte — in vieler Hinsicht ein besseres als die Amerikaner -, waren die einzelnen Inspektoren vor Ort oft berüchtigt für ihre Ignoranz. Und natürlich begegnete man häufig auch dem Vorurteil, daß Fremde sich die ruhmreiche Geschichte Frankreichs unter den Nagel rissen.
Planquadrat vier, das wußte sie, lag drüben beim Kloster. Sie überlegte, ob sie in der Kapelle bleiben oder den weiten Weg bis dort hinüber machen sollte, und beschloß schließlich zu gehen. In Wahrheit war ein Großteil ihrer täglichen Arbeit langweilig und ereignislos. Und sie alle brauchten das Wiederanfachen der Begeisterung, das eine neue Entdeckung mit sich brachte.
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