Ruhelos ging Marek nach draußen und kehrte wieder zurück. Er war gereizt, nervös.
»Das ist komisch«, sagte sie. »Das Wort vivix gibt es nicht. Zumindest nicht in diesem Lexikon.« Methodisch, wie sie war, machte sie sich eine Notiz. Marek seufzte.
Die Stunden krochen vorüber. Der Professor rief nicht an.
Dann war es Mittag, und die Studenten schlenderten zu dem großen Zelt, wo alle aßen. Marek stand in der Tür und sah ihnen zu. Sie wirkten sorglos, lachten und boxten einander und machten Witze. Das Telefon klingelte. Er drehte sich sofort wieder um. Elsie nahm ab. Er hörte sie sagen: »Ja, er ist hier bei mir...» Er stürzte zu ihr. »Der Professor?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist jemand von ITC.« Sie gab ihm den Hörer.
»Andre Marek hier«, sagte er.
»Ach ja. Einen Augenblick bitte, Mr. Marek. Mr. Doniger möchte Sie gern sprechen.«
»Wirklich?« »Ja. Wir versuchen seit Stunden, Sie zu erreichen. Bitte warten Sie, bis ich ihn gefunden habe.«
Eine lange Pause. Klassische Musik spielte. Marek legte die Hand über den Hörer und sagte zu Elsie: »Doniger.«
»Mann«, sagte sie. »Da scheinst du einen Stein im Brett zu haben. Der Oberboß persönlich.« »Warum ruft Doniger mich an?«
Fünf Minuten später wartet er noch immer, als Stern kopfschüttelnd ins Zimmer kam. »Das wirst du nicht glauben.« »Ja? Was?«
Stern gab ihm wortlos ein Blatt Papier. Daraufstand:
638 ± 47 VUZ
»Was soll das sein?«
»Die Datierung der Tinte.«
»Wovon redest du?«
»Die Tinte«, sagte Stern. »Sie ist sechshundertachtunddreißig Jahre alt, plus oder minus siebenundvierzig Jahre.« »Was?« sagte Marek.
»Du hast richtig gehört. Die Tinte stammt aus dem Jahr 1361 nach Christus.«
»Was?«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Stern. »Aber wir haben den Test dreimal gemacht. Jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Wenn das wirklich der Professor geschrieben hat, dann hat er es vor über sechshundert Jahren geschrieben.« Marek drehte das Blatt um. Auf der anderen Seite stand: 1361 n. Ch. ± 47 Jahre
Im Hörer hörte plötzlich die Musik mit einem Klicken auf, und eine angespannte Stimme sagte: »Mr. Marek? Hier Bob Doniger.« »Ja?« sagte Marek.
»Sie erinnern sich vielleicht nicht an mich, aber wir haben uns vor ein paar Jahren kennengelernt, als ich die Ausgrabungsstätte besuchte.« »Ich erinnere mich noch sehr gut«, sagte Marek.
»Ich rufe an wegen Professor Johnston. Wir machen uns Sorgen um seine Sicherheit.« »Ist er verschwunden?«
»Nein, das ist er nicht. Wir wissen genau, wo er ist.«
Etwas in Domgers Tonfall jagte Marek einen Schauer über den Rücken.
Er sagte: »Kann ich dann mit ihm sprechen?«
»Im Augenblick nicht, fürchte ich.«
»Ist der Professor in Gefahr?«
»Das ist schwer zu sagen. Ich hoffe nicht. Aber wir brauchen Ihre Hilfe und die Ihrer Gruppe. Ich habe bereits das Flugzeug abgeschickt, um Sie abzuholen.«
Marek sagte: »Mr. Doniger, es sieht so aus, als hätten wir hier eine Nachricht von Professor Johnston, die über sechshundert Jahre -« Doniger schnitt ihm das Wort ab. »Bitte nicht über Handy«, sagte er. Aber Marek fiel auf, daß er absolut nicht überrascht wirkte. »Bei Ihnen in Frankreich ist jetzt Mittag, nicht?« »Kurz danach, ja.«
»Na gut«, sagte Doniger. »Suchen Sie sich die drei Mitglieder Ihres Teams aus, die die Dordogne-Region am besten kennen. Fahren Sie zum Flugplatz in Bergerac. Packen Sie nicht lange. Sie bekommen von uns alles, was Sie brauchen. Das Flugzeug landet um 15 Uhr Ihrer Zeit und bringt Sie hierher nach New Mexico. Alles klar?« »Ja, aber —« »Bis dann.« Und Doniger legte auf.
David Stern sah Marek an. »Was war denn los?« fragte er. »Hol dir deinen Paß«, sagte Marek. »Was?«
»Hol dir deinen Paß. Und dann komm mit dem Auto hierher.« »Fahren wir wohin?« »Ja, das tun wir«, sagte Marek. Und griff nach seinem Funkgerät.
Kate Erickson sah von der Mauerkrone der Burg von La Roque hinunter in den Burghof, den weiten, grasbewachsenen Mittel-punkt der Anlage. Auf dem Rasen wimmelte es von Touristen unterschiedlichster Nationalitäten, alle in Shorts und bunten Hemden. Überall klickten Kameras.
Unter sich hörte sie ein junges Mädchen sagen: »Schon wieder eine Burg. Warum müssen wir uns all diese blöden Burgen anschauen, Mom?«
Ihre Mutter antwortete: »Weil Dad sich sehr dafür interessiert.« »Aber die sind doch alle gleich, Mom.« »Ich weiß, Liebling...«
Ein paar Meter entfernt stand der Vater innerhalb einer niedrigen Mauer, die den Umriß eines früheren Raums definierte. »Und das«, verkündete er seiner Familie, »war der Festsaal.« Kate sah sofort, daß das nicht stimmte. Der Mann stand in den Überresten der Küche. Das war deutlich zu sehen an den drei Öfen, die in der linken Wand noch immer zu erkennen waren. Und die Steinrinne, die Wasser in die Küche geleitet hatte, ragte direkt hinter dem Mann aus der Wand.
»Was hat man im Festsaal gemacht?« fragte seine Tochter.
»Hier wurden Bankette abgehalten, und hier haben Ritter, die zu Besuch kamen, dem König ihre Reverenz erwiesen.«
Kate seufzte. Es gab keine Hinweise darauf, daß je ein König in La Roque gewesen war. Im Gegenteil, die Dokumente deuteten daraufhin, daß die Festung immer eine private Burg gewesen war, erbaut im elften Jahrhundert von einem gewissen Armand de Clery und Anfang des vierzehnten Jahrhunderts umgebaut und stärker befestigt mit einem zusätzlichen äußeren Mauerring und weiteren Zugbrücken. Diese Umbauten wurden ausgeführt von einem Ritter namens Francois le Gros, oder Francis dem Fetten, um das Jahr 1302 herum. Trotz seines Namens war Francois ein englischer Ritter, und seine Umbauten waren bestimmt vom neuen Stil englischer Burgen, den Edward I. geprägt hatte. Die edwardischen Burgen waren sehr groß, mit weiten Höfen und komfortablen Gemächern für den Burgherrn. Dies sagte Francois sehr zu, der nach allen Quellen eine künstlerische Ader, einen Hang zur Faulheit und außerdem beständige Geldprobleme hatte. Francois war gezwungen, seine Burg zu verpfänden und später sogar zu verkaufen. Während des Hun-dertjährigen Kriegs wurde La Roque beherrscht von einer ganzen Reihe von Rittern. Aber die Befestigungen hielten: Die Burg wechselte nie nach einer Schlacht den Besitzer, sondern immer nur nach geschäftlichen Transaktionen.
Was nun den Festsaal anging, den sah Kate etwas weiter links, nur noch bröckelnde Mauern, die aber noch immer einen sehr großen Raum umrissen, beinahe dreißig Meter lang. Der riesige offene Kamin — drei Meter hoch und vier Meter breit - war noch zu erkennen. Kate wußte, daß ein Saal dieser Größe immer Steinwände und ein Holzdach gehabt hatte. Und jetzt, da sie genau hinsah, konnte sie wirklich am oberen Mauerrand Einkerbungen erkennen, in die man die mächtigen Querbalken eingepaßt hatte. Darüber hatten wohl Kreuzverstrebungen in die Höhe geragt, die das Dach stützten.
Eine britische Reisegruppe zwängte sich auf der schmalen Mauerkrone an ihr vorbei. Sie hörte die Führerin erzählen: »Diese Festungsmauer wurde von Sir Francis dem Bösen im Jahr 1363 errichtet. Francis war wirklich ein durch und durch gemeiner Kerl. In seinen riesigen Verliesen quälte er gern Männer und Frauen und sogar Kinder. Wenn Sie jetzt nach links schauen, sehen Sie den Sprung der Liebe, wo Madame de Renaud zu Tode stürzte, entehrt, weil sie schwanger war vom Stallburschen ihres Gatten. Es ist jedoch noch immer nicht klar, ob sie sprang oder von ihrem erzürnten Gemahl gestoßen wurde...« Kate seufzte. Wo hatten sie nur immer diese Märchen her? Sie wandte sich wieder ihrem Skizzenblock zu und zeichnete weiter an ihrem Grundriß der Anlage. Auch diese Burg hatte ihre Geheimgänge. Aber Francis der Fette war ein geschickter Architekt gewesen. Seine Geheimgänge dienten vorwiegend Verteidigungszwecken. Ein Gang führte von der Mauerkrone zur entfernten Wand des Festsaals und hinten am Kamin vorbei. Ein anderer folgte der Brustwehr auf der südlichen Mauerkrone.
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