Der Lastwagen fuhr noch fünf Meilen bis zum Cross Bronx Expressway und bog dort nach Westen ab. Etwa zwölf Minuten später überquerte er den Harlem River und bald darauf die George Washington Bridge, die den Hudson River überspannte.
Die Brücke bildete die Grenze zwischen New York State und New Jersey. Für Miguel und den Rest der Medellin-Gruppe waren es nun nur noch wenige Meilen bis zu ihrem sicheren Unterschlupf in Hackensack.
13
Bert Fisher lebte und arbeitete in einer winzigen Wohnung in Larchmont. Er war achtundsechzig und seit Jahrzehnten Witwer. Seine Visitenkarten wiesen ihn als Nachrichtenreporter aus, doch im Fachjargon hieß er etwas wirklichkeitsnäher Stringer, der Mann fürs Grobe vor Ort.
Wie andere Stringer auch, war Bert der örtliche Vertreter verschiedener großer Nachrichtenorganisationen, die ihren Sitz in den Metropolen hatten, und von einigen dieser Konzerne erhielt er sogar ein kleines Vorabhonorar. Er lieferte Informationen oder fertige Berichte, wurde aber nur für das bezahlt, was wirklich verwendet wurde. Da Kleinstadtnachrichten nur selten regionale, geschweige denn nationale Bedeutung hatten, war es schwierig, Material bei großen Zeitungen oder Radio- und Fernsehsendern unterzubringen. Stringer wurden deshalb auch nie reich, die meisten hielten sich wie Bert Fisher gerade so über Wasser.
Trotzdem gefiel Bert seine Arbeit. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er als amerikanischer G.I. in Europa für die Armeezeitung Stars and Stripes gearbeitet. Das hatte ihn auf den Geschmack gebracht, und seit dieser Zeit trug er seinen bescheidenen Teil zum amerikanischen Nachrichtenumsatz bei. Obwohl ihn das Alter inzwischen etwas langsamer gemacht hatte, telefonierte er noch täglich mit lokalen Informanten und hatte auch ständig mehrere Abhörgeräte eingeschaltet, mit denen er den Funkverkehr von Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen und anderer öffentlicher Dienste überwachen konnte. Er hoffte immer, auf etwas zu stoßen, das eine Weiterverfolgung lohnte und das er einem der großen Nachrichtenkonzerne verkaufen konnte.
Mit einem dieser Geräte hatte Bert auch den Funkspruch des Revierbeamten an den Streifenwagen 423 aufgefangen. Zunächst schien es sich um einen reinen Routineeinsatz zu handeln, doch kurz darauf meldete der Beamte auf dem Parkplatz des Grand Union Supermarkts eine mögliche Entführung an das Revier. Beim Wort »Entführung« richtete Bert sich auf, stellte die Frequenz des Larchmonter Polizeifunks auf seinem Abhörgerät fest ein und griff zum Notizpapier.
Am Ende der Übertragung wußte Bert, daß er sofort zum Schauplatz mußte. Doch zuerst kam ein Anruf bei der New Yorker Fernsehstation WCBA.
Bei WCBA-TV nahm ein Assistant News Director Bert Fishers Anruf entgegen.
WCBA, eine Tochtergesellschaft von CBA, war ein renommierter Lokalsender, der das Stadtgebiet von New York mit Nachrichten versorgte. Sitz des Senders waren drei Stockwerke eines Bürohauses in Manhattan, etwa eine Meile von der Konzernmutter entfernt. Obwohl nur ein Lokalsender, erreichte er ein großes Publikum. WCBA News war nicht zuletzt wegen der Fülle von Nachrichten, die New York täglich lieferte, in gewisser Weise ein Mikrokosmos von CBA News.
In dem hektischen, lärmenden Redaktionssaal, in dem dreißig Leute Schulter an Schulter arbeiteten, verglich der Assistant News Director Bert Fishers Namen mit einer Liste aus einem Loseblattordner. »Okay«, sagte er schließlich, »was haben Sie?«
Bert wiederholte die Polizeimeldung und sagte dann, er wolle selbst sofort zum Schauplatz fahren.
»Also nur eine >mögliche< Entführung, hm?« fragte der Assistant.
»Ja, Sir.«
Obwohl Bert Fisher fast dreimal so alt war wie der junge Mann am anderen Ende der Leitung, sprach er ihn mit einer dem höheren Rang entsprechenden Höflichkeit an, die er sich aus einer anderen Zeit herübergerettet hatte.
»Also gut, Fisher. Machen Sie sich auf die Socken. Und rufen Sie sofort an, falls da wirklich was dahintersteckt.«
»Jawohl, Sir. Sie können sich auf mich verlassen.«
Beim Auflegen kam dem Assistant News Director der Gedanke, daß hier möglicherweise nur jemand falschen Alarm ausgelöst hatte. Er überlegte kurz, ob er ein Kamerateam nach Larchmont schicken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Im Augenblick war der Bericht des Informanten noch sehr verworren. Außerdem waren alle verfügbaren Teams unterwegs, und das würde bedeuten, daß er eins von einer laufenden Story abziehen müßte. Ohne detaillierte Informationen gab es auch nichts, das man hätte senden können.
Trotzdem ging der Assistant hinüber zu dem etwas erhöhten Schreibtisch der Nachrichtenchefin und erzählte ihr von dem Anruf.
Sie hörte ihm zu und billigte seine Entscheidung. Doch dann fiel ihr etwas ein und sie griff zu einem Telefon, das sie über eine Standleitung direkt mit CBA News verband. Sie fragte nach Ernie LaSalle, dem Inlandschef, mit dem sie manchmal Informationen austauschte.
»Hör zu«, sagte sie, »ich hab' hier etwas, das sich möglicherweise als Ente erweist.« Sie wiederholte, was sie eben gehört hatte und fügte dann hinzu: »Aber hier geht es um Larchmont, und ich weiß, daß Crawford Sloane dort wohnt. Es ist ja nur ein kleiner Ort, und vielleicht ist jemand betroffen, den er kennt. Vielleicht solltest du es ihm sagen.«
»Danke«, erwiderte LaSalle. »Halt mich auf dem laufenden.«
Ernie LaSalle hängte ein und überlegte kurz, ob er dem eben Gehörten irgendeine Bedeutung beimessen sollte. Höchstwahrscheinlich würde die ganze Sache im Sand verlaufen. Aber trotzdem...
Kurz entschlossen griff er zum roten Haustelefon.
»Inlandsredaktion. LaSalle. Habe eben erfahren, daß im Polizeifunk von Larchmont, wiederhole, Larchmont, New York, von einer möglichen Entführung die Rede ist. Keine weiteren Informationen. Unsere Freunde von WCBA gehen der Sache nach und halten uns auf dem laufenden.«
Die Meldung des Inlandschefs war in der ganzen CBA NewsZentrale zu hören. Einige fragten sich, warum LaSalle etwas so Unwichtiges über die Haussprechanlage durchgegeben hatte. Andere dachten nicht weiter darüber nach und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Doch die Chefproduzenten am Hufeisen im Stockwerk über dem Redaktionssaal hatten aufmerksam zugehört. Einer deutete auf Crawford Sloane, der hinter der geschlossenen Glastür in seinem Büro zu sehen war, und meinte: »Falls es in Larchmont wirklich eine Entführung gegeben hat, sollten wir dankbar sein, daß es nicht Crawf, sondern jemand anderen getroffen hat. Außer der da drin ist sein Doppelgänger.« Die anderen lachten.
Crawford Sloane hörte LaSalles Meldung aus dem Lautsprecher auf seinem Schreibtisch. Die Tür hatte er geschlossen, weil er mit dem Präsidenten von CBA News, Leslie Chippingham, ein vertrauliches Gespräch führen wollte. Eigentlich hatte Sloane vorgehabt, Chippingham in dessen Büro aufzusuchen, doch der Präsident hatte es vorgezogen, zu ihm zu kommen.
Während der Mitteilung schwiegen beide, und Sloane hob bei der Erwähnung von Larchmont interessiert den Kopf. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre er sofort in den Redaktionssaal gelaufen, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Doch jetzt wollte er nicht ein Gespräch unterbrechen, das sich zu einer knallharten Konfrontation entwickelt hatte und das, sehr zu seiner Überraschung, ganz und gar nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte.
14
Der Präsident von CBA News eröffnete das Gespräch. »Crawf, meine Nase sagt mir, daß du ein Problem hast.«
»Deine Nase täuscht sich«, erwiderte Crawford Sloane. »Du bist der mit dem Problem. Es ist leicht zu lösen, aber dazu sind einige strukturelle Veränderungen nötig. Und zwar sofort.«
Leslie Chippingham seufzte. Er war seit dreißig Jahren im Nachrichtengeschäft, ein alter Hase, der seine Karriere mit neunzehn als Botenjunge bei NBC's Huntley-Brinkley-Report begonnen hatte, dem journalistischen Aushängeschild dieser Zeit. Seit damals wußte er, daß man Moderatoren so behutsam behandeln mußte wie Ming-Vasen und daß sie die gleiche Ehrerbietung verlangten wie gekrönte Häupter. Ebendieser Feinfühligkeit hatte er es, neben anderen Talenten, zu verdanken, daß er sich nach seiner Zeit als Chef im Studio an der Spitze von CBA News hatte halten können, während andere in ähnlich hohen Positionen, darunter auch einige Präsidenten, auf fernsehpolitische Nebengleise abgeschoben wurden oder in der Vergessenheit eines frühen Ruhestands versanken.
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