Luis stieg aufs Gas; mit hohem Tempo raste er über die holprigen Straßen der Bronx.
Baudelio hatte seit der Abfahrt immer wieder die Lebensfunktionen der beiden betäubten Gefangenen kontrolliert. Es schien alles in Ordnung zu sein. Die Wirkung des Midazolam, das er ihnen injiziert hatte, würde schätzungsweise noch eine Stunde anhalten. Falls nicht, würde er ihnen eine weitere Dosis spritzen, doch nur ungern, da dies die viel kompliziertere medizinische Aufgabe, die ihn am Ende der Fahrt erwartete, verzögern konnte.
Bei dem älteren Mann hatte er die Blutung gestoppt und die Kopfwunde verbunden. Nun kam er langsam wieder zur Besinnung, er bewegte sich und stöhnte leise. Baudelio zog eine weitere Dosis Midazolam auf eine Spritze und injizierte sie ihm, für alle Fälle. Er hatte keine Ahnung, was sie mit dem Alten machen würden. Höchstwahrscheinlich würde Miguel ihn erschießen und die Leiche verschwinden lassen; während seiner Zeit beim Medellin-Kartell hatte Baudelio so etwas schon oft gesehen. Ihn ließ das kalt. Denn die Sorge um andere Menschen war eine Empfindung, die Baudelio schon vor langer Zeit abgelegt hatte.
Rafael hatte einige braune Decken hervorgeholt, und Baudelio sah nun zu, wie er und Carlos die Frau, den Jungen und den alten Mann darin einwickelten, bis nur noch die Köpfe heraussahen. Am oberen Ende war jeweils ein Stück Decke übrig, damit man den Geiseln beim Ausladen die Gesichter bedecken konnte. Mit einem Seil verschnürte Carlos die Bündel; für einen flüchtigen Beobachter waren sie nun von gewöhnlichem Frachtgut nicht mehr zu unterscheiden.
Conner Street in der Bronx war ein heruntergekommenes, graues und deprimierendes Viertel. Luis kannte den Weg, sie waren ihn zur Probe bereits zweimal abgefahren. Bei einer Texaco Tankstelle bogen sie rechts in ein halb verlassenes Industriegebiet ein. Die am Straßenrand in großen Abständen geparkten Lastwagen sahen aus, als würden sie schon lange dort stehen. Menschen waren kaum zu sehen.
Vor der langen tür- und fensterlosen Mauer eines verlassenen Lagerhauses hielt Luis an. Im selben Augenblick fuhr ein Lastwagen, der auf der anderen Straßenseite gewartet hatte, auf den Kleinbus zu und hielt kurz vor ihm an. Es war ein weißer CMC mit der Aufschrift »Superbread« auf beiden Seiten.
Nachforschungen hätten ergeben, daß es ein Produkt mit dem Namen »Superbread« nicht gab. Der Lastwagen war eins von sechs Fahrzeugen, die Miguel, als Repräsentant einer nicht existenten Autoverleihfirma auftretend, gleich nach seiner Ankunft gekauft hatte. Der GMC war bereits gelegentlich für die Beschattung und auch für andere Zwecke benutzt worden. Rafael hatte ihn und die anderen Fahrzeuge schon mehrmals neu lackiert und die Aufschriften geändert. An diesem Vormittag saß Socorro, die einzige Frau der Truppe, am Steuer des Lasters. Sie sprang jetzt heraus, lief nach hinten und öffnete die Hecktüren.
Gleichzeitig ging auch beim Nissan die Tür auf. Rafael und Carlos sprangen heraus und trugen die verschnürten Bündel eilig zum Lastwagen. Baudelio packte seine Arzttasche zusammen und folgte ihnen.
Miguel und Luis hatten im Kleinbus zu tun. Miguel zog die dunkle Plastikfolie von den Fenstern; sie hatte ihren Zweck erfüllt und war nun ein Identifikationsmerkmal, das man verschwinden lassen mußte. Luis klaubte zwei New Yorker Nummernschilder unter dem Fahrersitz hervor, die er schon vor Beginn der Aktion dort versteckt hatte.
Nachdem er sich umgesehen hatte, um sicherzugehen, daß ihn niemand beobachtete, tauschte er die Kennzeichen aus New Jersey gegen die New Yorker aus. Es dauerte nur wenige Sekunden, weil alle Fahrzeuge der Gruppe spezielle, aufklappbare Schildhalterungen besaßen. Mit wenigen Handgriffen konnte die Klappe angehoben und die Schilder ausgewechselt werden. Ein Federmechanismus ließ die Klappe dann wieder zurückschnellen.
Bald nach seiner Ankunft in Amerika hatte Miguel sich über seine Unterweltkontakte eine Reihe von Nummernschildern aus New Jersey und New York besorgt. Dabei handelte es sich um Schilder von Autos, die zwar nicht mehr in Gebrauch waren, für die aber weiterhin Zulassungsgebühren bezahlt wurden.
Das Zulassungssystem von New York, New Jersey und den meisten anderen Staaten machte es möglich, Nummernschilder für Fahrzeuge zu erhalten, die schon längst in ihre Einzelteile zerlegt und verschrottet waren. Die Zulassungsstelle war nur an der Zulassungsgebühr und einem, ebenso leicht zu beschaffenden Versicherungsnachweis für das nicht mehr existierende Fahrzeug interessiert. Weder die Behörde noch die Versicherung, die jeden Vertrag beliebig verlängerte, solange nur die Prämie gezahlt wurde, wollten je das Fahrzeug selbst sehen.
In Kriminellenkreisen florierte das Geschäft mit solchen Nummernschildern, die zwar illegal, bei der Polizei aber nicht als solche registriert waren und deren Wert deshalb die wirklichen Kosten um ein Vielfaches übertraf.
Miguel kam mit den Plastikfolien aus dem Kleinbus und stopfte sie in eine bereits überquellende Mülltonne. Die Nummernschilder, die Luis eben entfernt hatte, folgten.
Luis setzte sich nun hinter das Steuer des Lastwagens, in dem sich bereits die bewußtlosen Geiseln Jessica, Nicholas und Angus sowie Miguel, Rafael, Baudelio und Socorro befanden. Nach einer schnellen Wende fuhr er zurück in Richtung Thruway, auf dem sie, kaum zehn Minuten, nachdem sie ihn verlassen hatten, in dem neuen Fahrzeug ihre Flucht in Richtung Süden fortsetzten.
Carlos am Steuer des leeren Nissan wendete ebenfalls. Auch er fuhr auf den I-95 zu, schlug dann aber die nördliche Richtung ein. Mit den ausgetauschten New Yorker Nummernschildern und ohne die dunkle Folie an den Fenstern sah der Bus aus wie tausend andere auch. Die Beschreibung, die die Polizei in Larchmont ausgegeben hatte, traf auf ihn jedenfalls nicht mehr zu.
Carlos hatte den Auftrag, den Nissan verschwinden zu lassen, und auch dies war sorgfältig vorbereitet. Nach drei Meilen verließ er die Autobahn und folgte der Landstraße weitere zwölf Meilen Richtung Norden bis nach White Plains. Dort fuhr er in ein öffentliches Parkhaus, ein vierstöckiges Gebäude neben einem Einkaufszentrum - die Center City Mall.
Auf der dritten Etage stellte Carlos den Nissan ab und machte sich mit scheinbarer Beiläufigkeit an die Arbeit. Supermarktkunden, die in der Nähe parkten, aus ihren Autos ausstiegen oder sie mit Waren beluden, schienen weder an ihm noch an dem Nissan im geringsten interessiert.
Zunächst wischte Carlos alle Oberflächen ab, um die Suche nach Fingerabdrücken zu erschweren - eine Vorsichtsmaßnahme, falls der Bus der Polizei in seinem augenblicklichen Zustand in die Hände fallen sollte. Doch mit dem nächsten Schritt sorgte er dafür, daß das nicht passierte.
Aus dem Handschuhfach nahm Carlos einen Styroporbehälter mit brisantem Inhalt: ein beträchtliche Menge Plastiksprengstoff, ein kleiner Zünder mit Zündstift, zwei
Drahtstücke und eine Rolle Klebeband. Mit dem Band befestigte er Sprengstoff und Zünder unten an den Vordersitzen. Die beiden Drahtstücke führte er vom Zündstift zu den inneren Türgriffen auf beiden Seiten und verknotete sie dort. Wurde nun eine der beiden Türen geöffnet, zog der Draht den Stift aus dem Zünder und die Ladung explodierte.
Abschließend warf Carlos noch einen Blick in die Fahrerkabine und vergewisserte sich, daß weder Sprengstoff noch Drähte zu sehen waren.
Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es mehrere Tage dauern, bis man den Bus entdeckte, und bis dahin waren die Entführer mit ihren Opfern längst über alle Berge. Doch bei der Entdeckung würde eine typische Terroristenüberraschung mit Nachdruck darauf hinweisen, daß mit den Entführern nicht zu spaßen war.
Carlos verließ das Parkhaus durch das Einkaufszentrum und machte sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf den Rückweg nach Hackensack, wo er sich mit den anderen treffen wollte.
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