Capitan Torres sagte mit gefurchter Stirn: »Es ist allerdings dringend notwendig, daß Sie schon heute mittag in den Palast zurückkehren.«
Der Colonel blickte auf. »Wieso denn das?« »Erinnern Sie sich nicht, Colonel? Heute ist doch der nationale Tag der Armee. Da halten Sie doch immer mittags eine große Rede.«
Colonel Bolivar sagte, nun ebenfalls stirnrunzelnd: »Natürlich, richtig, das stimmt.«
Er klingelte nach dem Arzt.
Als er da war, erklärte ihm der Colonel: »Ich muß noch heute vormittag die Klinik verlassen.«
Der Doktor aber schüttelte entschieden den Kopf.
»Ausgeschlossen, Colonel. Sie können nicht weg, bevor wir nicht alle Tests abgeschlossen haben. Aus deren Ergebnis erfahren wir doch erst, was für Medikamente wir Ihnen verschreiben müssen, damit Sie nicht womöglich einen schweren Rückfall erleiden.«
Der Colonel und der Capitan sahen einander an.
Colonel Bolivar sagte: »Gibt es denn keine Möglichkeit, daß ich -«
»Tut mir leid«, unterbrach ihn der Arzt. »Die Tests dauern vier Stunden, da ist nichts zu machen. Sie können erst heute nachmittag in Ihren Palast zurückkehren.«
»Na gut«, sagte Colonel Bolivar. »Danke Ihnen, Doktor.«
Der Arzt ging.
»Wo ist der Schauspieler im Augenblick?« fragte der Colonel.
»Ich habe ihn unter strikter Bewachung. Er entkommt nicht.«
»Gut. Heute abend will ich ihn im Kerker haben.«
»Und was ist mit der Rede?« erkundigte sich Capitan Torres.
»Haben Sie sie geschrieben?«
»Gewiß.«
»Gut, dann geben Sie sie ihm, daß er sie liest und vorträgt. Sobald er damit zu Ende ist, lassen Sie ihn zurück in den Palast schaffen und sofort in den Kerker werfen. Lassen Sie ihn keinen Moment aus den Augen.«
»Ganz bestimmt nicht«, versicherte der Capitan.
Eddie saß noch immer in seinem Schlafzimmer und zerbrach sich den Kopf, wie er fliehen könne, als Capitan Torres wieder bei ihm eintrat.
»Wie geht es Colonel Bolivar?« fragte Eddie.
Capitan Torres schüttelte betrübt den Kopf. »Der bedauernswerte Mann ist in keiner guten Verfassung«, log er. »Sieht so aus, als blieben Sie noch eine Weile Diktator.«
Eddie tat so, als freue ihn diese Eröffnung. »Großartig«, sagte er. »Weil mir das wirklich gut gefällt.«
»Sie haben wohl nicht mit dem Gedanken gespielt, heimzukehren, wie?« fragte der Capitan.
»Ich? Nein«, erklärte Eddie im Brustton der Überzeugung. »Nein, nein. Dazu macht mir das hier doch viel zuviel Spaß.«
»So, so«, sagte der Capitan. »Na gut. Da können Sie heute gleich noch mehr Spaß haben. Am Mittag gibt es eine große Kundgebung. Der Platz wird voller Menschen sein. Vor denen halten Sie eine Rede.«
»Im Redenhalten bin ich nicht so gut«, sagte Eddie.
»Das spielt keine Rolle. Die Rede habe ich Ihnen schon geschrieben.«
Er reichte Eddie das Manuskript. »Lesen Sie es durch, lernen Sie es auswendig, und ich hole Sie kurz vor Mittag ab.« Er musterte Eddie eindringlich und sagte: »Wenn Sie einen Spaziergang machen wollen ... Die Wachen werden Sie überallhin begleiten.«
Eddie lächelte schwach. »Sehr aufmerksam von Ihnen, Capitan!«
»Ach, keine Ursache«, sagte Torres. »Aber lernen Sie jetzt die Rede.«
Eddie sah zum Parkfenster hinaus. Die beiden Wachtposten standen nach wie vor da. Daß auch vor der Tür zum Flur Wachen standen, wußte er bereits. Es fiel ihm nichts ein, wie er von hier hinauskommen sollte. Er saß in der Falle. Wenn ich nur einen Autor hätte, dachte er, der mich hier hinausschriebe ...
Er griff nach dem Redemanuskript, das ihm Capitan Torres gegeben hatte, und begann zu lesen.
»Mein geliebtes Volk, wir sind heute hier versammelt, um unserer großen Armee zu gratulieren. Viele Jahre beschützen uns diese tapferen Männer nun schon vor unseren Feinden.«
Eddie dachte: Was denn für Feinde?
Er las weiter. »Da gibt es diejenigen, die unser großes Land vernichten wollen. Aber die Soldaten Amadors haben unsere Grenzen in der Vergangenheit immer gut bewacht, so wie sie es auch in der Zukunft tun werden!«
Eddie fragte sich wieder: Wovon redet der denn da? Der einzige, der versucht, Amador zu vernichten, ist er selbst, Colonel Bolivar!
Er las den Rest der bombastischen Rede, die bis zum Ende im gleichen Ton weiterging.
Die Leute haben vielleicht Nerven, dachte Eddie. Die versuchen tatsächlich, jeden für dumm zu verkaufen. Wo doch der wirkliche Zweck dieser Armee eindeutig darin besteht, das eigene Volk unter der Knute zu halten.
Er verspürte nicht die geringste Lust, diese Rede zu halten. Aber es war ihm auch klar, daß er keine andere Wahl hatte.
Ein paar Minuten vor Mittag ging die Tür seines Schlafzimmers auf, und Capitan Torres trat ein.
»Wir sind soweit«, sagte er. »Haben Sie die Rede gelernt?«
Eddie nickte. »Ja.«
»Gut.« Das wird die letzte Rede sein, dachte Capitan Torres im stillen, die dieser Schauspieler hält. Nein, das stimmt nicht. Eine wird er noch halten. Nämlich die, mit der er bei Colonel Bolivar um sein Leben bettelt.
Sie gingen den Korridor entlang, flankiert von den bewaffneten Wachtposten. Eddie war der Panik nahe. Wie komme ich bloß zum Flugzeug? überlegte er fieberhaft.
Da stand es startbereit auf dem Flughafen, vollgetankt für den Flug nach New York, und er war hier eingekreist von diesen Wachtposten! Es muß einfach einen Weg geben, dachte er. Aber so angestrengt er auch nachdachte, es fiel ihm keiner ein.
In einem Keller am Stadtrand gab Juan zu dieser Zeit automatische Waffen an seine Mitverschwörer aus.
»Heute«, sagte er, »werden wir Erfolg haben. Bolivar hält eine Rede auf einem Podium mitten auf dem Platz. Das Podium ist von kugelsicherem Glas umgeben.«
»Und wie sollen wir ihn da treffen?« fragte einer.
Juan lächelte. »Vergangene Nacht haben einige unserer Männer das kugelsichere Glas gegen normales ausgetauscht. Damit ist er auf seinem Podium völlig schutzlos.«
»Das ist großartig!«
»Dieses Mal wird es klappen!«
»Aber denkt daran«, mahnte Juan, »ihr müßt, wenn ich das Zeichen gebe, alle gleichzeitig schießen. Ihr steht über den ganzen Platz verteilt in seiner Nähe. Wenn also einer vorbeischießen sollte, treffen ihn auf jeden Fall die anderen.«
»Was ist das Signal?« fragte einer.
»Ich ziehe dieses rote Taschentuch heraus«, sagte Juan und zeigte es, »und wische mir damit über die Stirn. In dem Augenblick, in dem es meine Stirn berührt, zieht ihr und schießt. Alles klar?«
»Alles klar.«
»Gut. Also seht immer auf mich. Ich warte auf den genau richtigen Augenblick. So. Und jetzt gehen wir einer nach dem anderen los. Wir sehen uns auf dem Platz wieder.«
Er sah ihnen nach und dachte: Der große Tag ist nun endlich gekommen. Nicht mehr lange, und Colonel Bolivar ist tot.
Eddie und Capitan Torres stiegen in einen Wagen und fuhren zum großen Stadtplatz. Sie waren noch nicht da, als Eddie bereits den Lärm der Menge vernahm. Der Platz war schwarz von Menschen, es waren Tausende, Arbeiter, Schulkinder, normale Bürger. Alle standen sie in der heißen Sonne und warteten darauf, ihren Diktator sprechen zu hören.
»Sehen Sie mal, wieviel Publikum wir haben«, sagte Capitan Torres. »So sehr liebt das Volk Colonel Bolivar.«
Eddie mußte ja nicht unbedingt wissen, daß alle diese Leute nur deshalb da waren, weil sie bei Gefahr der Todesstrafe herbefohlen worden waren.
Mitten auf dem Platz war ein Podium für den Diktator errichtet worden.
»Gehen Sie hinauf«, sagte Capitan Torres zu Eddie.
Eddie stieg die Stufen zu dem Podium hinauf. Es war ringsum verglast.
»Das ist kugelsicheres Glas«, versicherte ihm Capitan Torres. »Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen.«
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