In gewisser Weise war es Keith gelungen, sich völlig auf seine Arbeit zu konzentrieren, auf eine andere merkwürdige Weise aber auch nicht. Fast schien es, als ob sein Bewußtsein gespalten wäre und auf zwei Ebenen existierte, wie bei einer Verdoppelung; er war jedoch fähig auf beiden gleichzeitig anwesend zu sein. Auf der einen Ebene dirigierte er den aus Osten kommenden Flugverkehr, der im Augenblick keine Schwierigkeiten bot. Auf der anderen hing er sehr persönlichen, auf sich selbst gerichteten Gedanken nach. Dieser Zustand konnte nicht sehr lange anhalten, aber vielleicht, dachte Keith, verhielt sein Verstand sich wie eine Glühlampe, die kurz vor dem Durchbrennen steht und während der letzten wenigen Minuten am hellsten leuchtet.
Die persönliche Seite seiner Gedanken war jetzt leidenschaftsloser und ruhiger als vorher. Womöglich war das eine Folge seines Gesprächs mit Mel, wenn nicht gar mehr. Alles schien festgelegt und geklärt zu sein. Keiths Schicht würde enden, er würde diesen Ort verlassen, bald darauf würde alles Warten und alle Qual vorüber sein. Er war der Überzeugung, daß sein Leben von dem anderer bereits abgeschnitten war, er gehörte nicht mehr zu Natalie oder Mel oder Brian oder Theo — noch gehörten sie zu ihm. Er gehörte zu den bereits Toten — zu den Redferns, die gemeinsam in dem Wrack ihrer Beechcraft Bonanza gestorben waren, zu der kleinen Valerie — zu ihrer Familie. Das war es! Warum hatte er daran bisher noch nie gedacht? Warum nicht erkannt, daß sein eigener Tod eine Sühne war, die er den Redferns schuldete? Unverändert leidenschaftslos fragte Keith sich, ob er geisteskrank sei. Leuten, die sich zum Selbstmord entschlossen, wurde das nachgesagt, aber es spielte so oder so keine Rolle. Für ihn stand Qual oder Friede zur Wahl, und noch ehe das Licht des Morgens erschiene, würde der Friede kommen. Wieder griff seine Hand, wie schon so häufig während der vergangenen letzten Stunden, in seine Tasche nach dem Schlüssel zu Zimmer 224 in der O'Hagan Inn.
Die ganze Zeit über fertigte er auf der anderen Ebene die aus Osten eintreffenden Flüge ab und zeigte dabei Spuren seiner alten Meisterschaft.
Die Krise, die Trans America Flug Zwei befallen hatte, kam Keith erst nach und nach zu Bewußtsein.
Die Flugsicherung auf Lincoln International war über Kapitän Anson Harris' Entschluß, dorthin zurückzukehren, schon vor fast einer Stunde unterrichtet worden, wenige Sekunden, nachdem Kapitän Harris seine Absicht bekanntgegeben hatte. Die Mitteilung war über einen »heißen Draht« erfolgt, eine direkte Telefonverbindung vom Inspektor im Chicago Center mit dem Dienstleiter im Kontrollturm, nachdem die gleiche Nachricht von den Zentren Cleveland und Toronto eingetroffen war. Zunächst konnte man auf Lincoln International Airport wenig tun, außer die Flughafenleitung über die Schneeräumstelle von der Forderung des Kapitäns, auf Landebahn Drei-Null zu landen, zu benachrichtigen.
Später, als Flug Zwei durch Chicago Center von Cleveland übernommen worden war, hatten spezifischere Vorbereitungen begonnen.
Der Radarinspektor Wayne Tevis wurde vom Dienstleiter des Kontrollturms benachrichtigt, der persönlich in den Radarraum kam, um Tevis über den Zustand der Maschine zu unterrichten, die geschätzte Ankunftszeit und die Zweifel, die noch bestanden, auf welcher Landebahn — Zwei-Fünf oder Drei-Null — die Maschine landen werde.
Zur gleichen Zeit alarmierte die Bodenkontrolle den Notdienst des Flughafens, sich einsatzbereit zu halten und bald danach mit seinen Fahrzeugen auf dem Flugfeld Position zu beziehen. Ein Bodenkontroller rief über Sprechfunk Patroni an, um nachzuprüfen, ob Patroni informiert worden sei, daß Landebahn Drei-Null dringend benötigt wurde. Das war geschehen.
Danach wurde über eine in Reserve gehaltene Funkfrequenz zwischen dem Kontrollturm und der Pilotenkanzel der Düsenmaschine der Aereo Mexican, die Landebahn Drei-Null blockierte, Verbindung hergestellt. Diese Vorkehrung wurde getroffen, um eine sofortige Verständigung in beiden Richtungen zu gewährleisten, wenn Patroni den Platz am Steuer des Flugzeugs einnahm.
Wayne Tevis' erste Reaktion war, sich im Radarraum nach Keith umzusehen, als er die Nachricht vom Dienstleiter des Kon-trollturms hörte. Falls die Arbeitsverteilung nicht geändert wurde, würde Keith, der den Abschnitt der aus Osten eintreffenden Maschinen bearbeitete, Flug Zwei vom Chicago Center übernehmen und die Maschine zur Landung einweisen.
Leise fragte Tevis den Dienstleiter: »Sollen wir Keith ablösen? Einen anderen an seinen Platz setzen?«
Der Dienstleiter, der ältere der beiden, zögerte. Er erinnerte sich des ersten Notstands, der sich bereits an diesem Abend mit der KC-135 der Air Force ergeben hätte. In diesem Fall hatte er Keith unter einem Vorwand ablösen lassen und sich nachher gefragt, ob er nicht voreilig gehandelt hatte. Wenn ein Mensch zwischen Selbstsicherheit und deren Verlust hin- und herschwankte, konnte man zu leicht, ohne es zu wollen, das Gewicht auf die falsche Waagschale fallen lassen. Auch hatte der Dienstleiter ein unbehagliches Gefühl, weil er in ein privates, vertrauliches Gespräch zwischen Keith und Mel Bakersfeld hineingeplatzt war, als die beiden sich draußen im Gang vor einiger Zeit unterhalten hatten. Er hätte sie ruhig ein paar Minuten länger ungestört reden lassen können, hatte es aber nicht getan.
Der Dienstleiter war selbst müde, nicht nur von der anstrengenden Schicht des heutigen Abends, sondern auch von vorhergegangenen. Er erinnerte sich, kürzlich irgendwo gelesen zu haben, daß neue Systeme für die Flugsicherung für die Mitte der siebziger Jahre vorbereitet wurden, die die Arbeitslast der Kontroller halbierten und damit die berufliche Überbelastung und Nervenzusammenbrüche verringerten. Der Dienstleiter stand dem skeptisch gegenüber. Er bezweifelte, ob die Anforderungen des Dienstes in der Flugsicherung geringer werden würden. Wenn sie auf der einen Seite nachließen, würden sie auf einer anderen stärker werden. Deshalb hatte er Verständnis und Mitgefühl für Leute wie Keith — der hager, blaß und angespannt an seinem Platz saß —, die Opfer dieses Systems waren.
Mit gedämpfter Stimme wiederholte Wayne Tevis seine Frage: »Soll ich ihn ablösen oder nicht?«
Der Dienstleiter schüttelte den Kopf. »Wir wollen nichts überstürzen. Lassen Sie Keith an seinem Platz, aber passen Sie gut auf.«
Das war der Augenblick, in dem Keith, der die beiden die Köpfe zusammenstecken sah, erkannte, daß eine kritische Situation bevorstand. Er war schließlich ein alter Hase und mit den Vorzeichen, die Schwierigkeiten ankündigten, vertraut.
Sein Instinkt sagte ihm auch, daß sich die Unterhaltung der bei- den Vorgesetzten zum Teil um ihn selbst gedreht hatte. Er konnte verstehen, warum. Keith zweifelte nicht daran, daß er in wenigen Minuten vom weiteren Dienst befreit oder auf eine weniger entscheidende Position im Radarraum versetzt werden würde. Zu seiner Verwunderung war es ihm gleichgültig.
Deshalb überraschte es ihn, als Tevis, ohne vorher die Arbeitsplätze neu aufzuteilen, alle beobachtenden Positionen über die bevorstehende Notlandung von Flug Zwei der Trans America und ihre bevorzugte Behandlung gegenüber allen anderen Maschinen in der Luft unterrichtete. Die Abflugkontrolle wurde angewiesen, alle abfliegenden Maschinen auf Kurse zu leiten, die in weitem Abstand von der vermutlichen Anflugroute von Flug Zwei lagen.
Tevis erklärte Keith das besondere Problem mit den Landebahnen, die Ungewißheit, welche Landebahn eingesetzt werden konnte, und die Notwendigkeit, die Entscheidung bis zum letztmöglichen Augenblick hinauszuschieben.
»Arbeiten Sie sich selbst einen Plan aus, alter Junge«, wies Tevis ihn in seiner nasalen, schleppenden texanischen Sprechweise an.
»Und halten Sie sich nur an diese Maschine, nachdem sie uns übergeben worden ist. Wir nehmen Ihnen alles andere ab.«
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