Zunächst hatte Keith zustimmend genickt, in keiner Weise beunruhigter als vorher. Automatisch begann er den Flugplan zu berechnen, den er befolgen würde. Solche Pläne wurden immer im Kopf aufgestellt, da niemals genügend Zeit blieb, sie schriftlich zu fixieren. Außerdem ergab sich meistens, daß man später doch improvisieren mußte.
Sobald er die Maschine von Chicago Center übernahm, überlegte Keith, würde er sie in die allgemeine Richtung auf Landebahn DreiNull dirigieren, ihr aber genügend Spielraum lassen, daß sie nach links abbiegen konnte — allerdings ohne daß sie gezwungen wurde, in niedriger Höhe in eine scharfe Kurve zu gehen —, falls man letzten Endes doch gezwungen war, sie auf Landebahn Zwei-Fünf landen zu lassen.
Er rechnete: Ungefähr zehn Minuten lang würde er das Flugzeug unter Anflugkontrolle haben. Tevis hatte ihn bereits unterrichtet, daß sie wahrscheinlich erst in den letzten fünf Minuten zuverlässig erfahren würden, wie es mit den Landebahnen stand. Es mußte unglaublich fein eingefädelt werden, und nicht nur oben im Flugzeug, sondern auch unten im Radarraum würden die Leute in Schweiß ausbrechen. Aber es konnte geschafft werden, wenn auch gerade eben noch. Noch einmal ging Keith in Gedanken den geplanten Flugkurs und die Kompaßrichtungen durch.
Inzwischen begannen inoffiziell genauere Berichte zum Kontroll-turm durchzudringen. Die Kontroller gaben die Informationen in Pausen, wenn die Arbeit es erlaubte, untereinander weiter . . . In der Maschine hatte sich während des Flugs in großer Höhe eine Explosion ereignet — sie kam mit strukturellen Schäden und Verletzten an Bord angeschlagen zurück . . . Die Manövrierfähigkeit des Flugzeugs war fragwürdig. Die Piloten brauchten die längste vorhandene Landebahn — die vielleicht nicht einsatzfähig sein würde . . . Kapitän Demerests Warnung wurde wiederholt — auf Zwei-Fünf ein zerschmettertes Flugzeug und Tote . . . Der Kapitän hatte an den Flughafendirektor einen wilden Funkspruch geschickt. Jetzt war der Direktor draußen auf Landebahn Drei-Null und versuchte sie freizubekommen . . . Die noch verfügbare Zeit wurde immer kürzer . . .
Selbst die Kontroller, für die Anspannung etwas so Alltägliches war wie der Flugverkehr, fingen jetzt an, die allgemeine Nervosität zu teilen.
Keiths Assistent am Radargerät, der links von ihm saß, gab die Neuigkeiten in Bruchstücken weiter, wie er sie erhielt. Mit ihnen steigerte sich bei Keith die Nervenanspannung und seine Befürchtungen. Er wollte das alles nicht! Er wollte nichts damit zu tun haben! Es gab für ihn nichts, was er beweisen wollte oder beweisen mußte. Für ihn war hier nichts zu gewinnen, selbst wenn er die Lage vorbildlich meisterte. Und wenn ihm das nicht gelang, wenn er etwas verpatzte, konnte er ein Flugzeug voll mit Menschen in den Tod schicken, wie er es schon einmal getan hatte.
Auf der anderen Seite des Radarraums nahm Tevis an einem direktgeschalteten Telefon einen Anruf des Dienstleiters entgegen. Vor wenigen Minuten war der Dienstleiter ein Stockwerk höher in die höchste Etage des Turms gegangen, um an der Seite des Bodenkontrollers zu bleiben.
Tevis hängte ein und rollte mit seinem Sitz neben Keith. »Der Alte hat gerade Nachricht vom Center erhalten. Die Übergabe von Trans America Flug Zwei erfolgt in drei Minuten.«
Der Inspektor rollte sich weiter zur Abflugkontrolle und überprüfte, ob der gesamte abgehende Flugverkehr weitab von der Route der anfliegenden Maschine gehalten wurde.
Der Mann an Keiths linker Seite berichtete, draußen auf dem Flugfeld versuchten sie immer noch verzweifelt, die festgefahrene Düsenmaschine freizubekommen, die Landebahn Drei-Null blok-kierte. Sie hätten die Motoren angelassen, aber die Maschine rühre sich nicht von der Stelle. Keiths Bruder, so sagte der Assistent links von ihm, habe den Befehl übernommen, und wenn die Maschine nicht aus eigener Kraft herauskomme, wolle er sie in Stücke schlagen lassen, um die Landebahn freizuräumen. Aber jeder fragte sich: Reicht die Zeit noch aus?
Wenn Mel das meint, dachte Keith, reichte sie wahrscheinlich. Mel wurde mit den Dingen fertig, er schaffte es. Er hatte es immer geschafft. Keith konnte nicht mit den Dingen fertig werden — zumindest nicht immer und niemals so wie Mel. Das war der Unterschied zwischen ihnen.
Fast zwei Minuten waren vergangen.
Der Assistent neben Keith sagte ruhig: »Sie kommen auf den Schirm.« Am Rand des Radarschirms sah Keith die Doppelblüte des Radarnotsignals auftauchen — unverkennbar Flug Zwei der Trans America.
Keith wollte fort! Er konnte es nicht! Ein anderer mußte übernehmen. Wayne Tevis selbst konnte es machen. Noch war es Zeit.
Keith wandte sich vom Radarschirm ab und suchte Tevis. Der Inspektor befand sich bei der Abflugkontrolle und drehte Keith den Rücken zu.
Keith öffnete den Mund, um ihm zu rufen. Zu seinem Entsetzen brachte er kein Wort heraus. Er versuchte es noch einmal — das gleiche.
Er erkannte: Das war wie in diesem Traum, in seinem Alptraum. Seine Stimme versagte . . . Aber das hier war kein Traum, dies war Wirklichkeit! Oder etwa nicht? . . . Während er darum kämpfte, seine Stimme wiederzufinden, überkam ihn Panik.
An einer Schalttafel über dem Radarschirm zeigte ein aufleuchtendes weißes Licht an, daß Chicago Center anrief. Der Assistent nahm den Hörer der direktgeschalteten Leitung ab und meldete sich. »Sprechen Sie, Center.« Er drehte einen Knopf, schaltete einen Lautsprecher ein, damit Keith mithören konnte.
»Lincoln, Trans America Zwei befindet sich dreißig Meilen Südost des Flughafens. Flugrichtung zwei-fünf-null.«
»Verstanden, Center. Wir haben Radarkontakt mit der Maschine. Veranlassen Sie die Maschine, unsere Frequenz einzuschalten.« Der Assistent legte den Hörer zurück.
Chicago Center wies die Maschine jetzt an, ihre Funkfrequenz zu ändern, und wünschte ihr vermutlich viel Glück. Das geschah im allgemeinen, wenn sich eine Maschine in Gefahr befand. Es war das Geringste, was man aus der behaglichen Sicherheit am Boden heraus tun konnte. In dem abgeschlossenen, angenehm warmen Raum mit seinen gedämpften Geräuschen konnte man sich nur schwer vorstellen, daß irgendwo draußen, hoch oben in Nacht und Dunkelheit, vom Sturm geschüttelt und mit fragwürdigen Chancen zu überleben, ein verkrüppelter Luftkreuzer sich den Weg nach Hause erkämpfte.
Die Frequenz für die aus Osten anfliegenden Maschinen erwachte zum Leben: Eine schroffe Stimme, unverkennbar die von Ver-non Demerest. Bis zu diesem Augenblick hatte Keith nicht daran gedacht. »Lincoln Anflugkontrolle. Hier ist Trans America Zwei. Halten sechstausend Fuß Höhe, Kurs zwei-fünf-null.«
Der Assistent wartete ungeduldig ab. Jetzt war Keith an der Reihe, den Funkspruch zu bestätigen, das Einweisen zu übernehmen. Aber Keith wollte aus der Sache heraus! Wayne Tevis hielt ihn immer noch den Rücken zugekehrt! Keith fand immer noch nicht seine Sprache wieder.
»Lincoln Anflugkontrolle«, schnarrte die Stimme von Trans America Flug Zwei wieder. »Wo zum Teufel, bleiben Sie?«
Warum dreht Tevis sich denn nicht um?
Keith kochte plötzlich vor Wut. Verfluchter Tevis! Verfluchte Flugsicherung! Sein verfluchter toter Vater, der seine Söhne in Berufe hineingehetzt hatte, die Keith sich nie gewünscht hatte! Verfluchter Mel mit seiner rasendmachenden selbstgenügsamen Tüchtigkeit! Verfluchtes Hier und Jetzt! Alles verflucht!. . .
Der Assistent sah Keith erwartungsvoll an. Jeden Augenblick mußte Trans America Zwei wieder rufen. Keith wußte, daß er in einer Falle saß. Besorgt, ob ihm seine Stimme gehorchen würde, schaltete er sein Mikrofon ein.
»Trans America Zwei«, begann Keith. »Hier Lincoln Anflugkontrolle. Bedaure die Verzögerung. Wir hoffen noch auf Landebahn Drei-Null. In drei bis fünf Minuten werden wir genau Bescheid wissen.«
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